Pommes – Nährstoff für Widersprüche
Ihr weltweiter Erfolg verspottet Belgier, Ärzte und Gastronomen
Ich bin berühmt, die ganze Welt isst mich, Kinder lieben mich als ,Gemüse‘, für Erwachsene bin ich ein sündhaftes Vergnügen, ich bin goldfarben und länglich, ich bin, ich bin...? ©Shutterstock/timquo
Es wird viel Widersprüchliches über diese Kartoffelstäbchen erzählt. Selbst ihr Ursprung ist unklar. Zwar hat Belgien sie zum nationalen Erbe erhoben, doch liegen ihre Wurzeln möglicherweise nicht dort. Auch die Franzosen beanspruchen ihre Herkunft, doch der wirkliche Ursprung bleibt im Dunkeln. Wenn wir herausfinden wollen, woher sie kommen, müssen wir uns zunächst einmal auf eine Definition einigen. Pommes sind zweimal im Ölbad gebackene Kartoffelstäbchen. Die Kartoffel stammt aus den Anden1: Warum sollten die Pommes also nicht von dort gekommen sein? Die Ureinwohner dieser Region verzehrten die Knolle bereits im 13. Jh., also lange bevor sie auf das für ihre Zubereitung nötige Verfahren traf: das sprudelnde Fettbad. „Die Kombination beider Elemente war dort unmöglich, weil die Ureinwohner Lateinamerikas diese Garungsart nicht kannten“, erklärt Pierre Leclercq, Lebensmittelhistoriker und Leiter von Le Petit Lancelot, einem mobilen Informationszentrum für die Verbreitung der Lebensmittelgeschichte mit Sitz in Belgien.
Erst mit der Einfuhr der Kartoffel nach Europa kam zusammen, was zusammen gehört. Dennoch war es nicht einfach, fährt der Historiker fort. „Die Kartoffel wurde vom Volk gekocht oder geschmort. Das Backen in Öl war eine teure Verarbeitungsmethode, die der Bourgeoisie vorbehalten blieb, die sich jedoch für den Verzehr von Kartoffeln zu schade war.“ Erste Literaturnachweise reichen bis ins Jahr 1750 zurück. Die Rede ist von Kartoffelscheiben, die in einer Pfanne mit Fett gebacken werden. „Spuren davon lassen sich bis nach Italien, Frankreich und Spanien zurückverfolgen“, ergänzt der Spezialist.
Ende des 18. Jhs. sieht man in Paris die ersten Pommes frites im Ölbad. „Sie werden von Händlern verkauft, in Scheiben oder als Krapfen, inspiriert von der Pariser Esskultur“. Schausteller und Strassenverkäufer verbreiten dann ein Jahrhundert lang diese Zubereitungsart in Nordfrankreich und Belgien, bis die endgültige Version der Pommes Frites erstmals in ihrer heutigen Form auftaucht, laut einem belgischen Kochbuch vom Beginn des 20. Jhs. als zweimal im Fettbad gebackene Stäbchen. Wer aber aus den Scheiben Stäbchen machte und somit die ersten Pommes kreierte, bleibt ein rätselhaft.
Pierre Leclercq glaubt, dass ein Schausteller bayrischer Herkunft 1830 in Belgien die Pommes-Leidenschaft entfachte. Als talentierter Kaufmann nutzte er seinen Spitznamen ‚Fritz‘ (wie in französischsprachigen Ländern und Grossbritannien Deutsche gern genannt werden), um für sein Produkt zu werben: frittierte Kartoffelscheiben. Ihr Erfolg war überwältigend, und sie breiteten sich dauerhaft auf belgischen Jahrmärkten aus, bis eine echte Kultur entstand: die Pommesbuden. Die Belgier sind sogar bereit, sie als immaterielles Erbe der Unesco2 anerkennen zu lassen.
Auch wenn die Belgier den grössten Pro-Kopf-Verbrauch von Pommes frites beanspruchen, macht die Liebe zu den goldenen Stäbchen nicht an ihren Grenzen halt. Ob als Beilage zum Steak in Frankreich oder zum amerikanischen Hamburger: Die ganze Welt erliegt der knusprigen Kartoffel mit dem weich-mehligen Geschmack. Fast elf Millionen Tonnen Pommes frites werden weltweit pro Jahr konsumiert, das sind 350 kg pro Sekunde3. Zwei Drittel der Kartoffelernte werden zu Pommes frites verarbeitet. Der Markt explodierte in den 2000er Jahren mit einem Produktionsanstieg von 26%. Meistverkaufte Variante sind die tiefgefrorenen Pommes frites, die dem Verbraucherwunsch ‚schnell und einfach‘ entsprechen. Der kanadische Riese McCain ist grösster Produzent der Welt; er beansprucht einen Produktionsanteil von 33% für sich.
Trotz der unbestreitbaren Begeisterung stehen Pommes frites in der Kritik, weil sie mit ungesundem Essen und Fast Food in Verbindung gebracht werden. Zwar waren sie lange Zeit von Feinschmeckertafeln verbannt, doch verzichten heute nicht einmal Sterneköche auf sie; verleitet vom kommerziellen Erfolg erheben sie Pommes auf gastronomisches Niveau.
Beim Zwei-Sterne-Koch Franck Putelat hat das Backen eine Metamorphose durchgemacht. So sind die Pommes frites seines Tartar-Pommes-Gerichts oval und werden nicht mehr in Öl frittiert, sondern als Soufflée4 zubereitet. Der Drei-Sterne-Koch Alain Ducasse seinerseits bringt den englischen Klassiker Fish and Chips ins Wanken, indem er mit den Geschmacksnuancen der Sauce spielt, die die Pommes begleitet5.
Die Kartoffel hat ihren festen Platz in einer abwechslungsreichen, ausgewogenen Ernährung6. Ist sie aber erst einmal zu Pommes geworden, wirken sich Speisefett (4 bis 7% bei McCain) und enthaltener Zucker gesundheitlich eher negativ aus. In einer aktuellen Studie7 bestätigt die dänische Forscherin Anne Raben, dass Pommes frites das Risiko von Fettleibigkeit, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen.
Damit nicht genug: Aus Stärke gewonnener Zucker wird in Acrylamid umgewandelt, sobald er mit der Aminosäure Asparagin auf über 120°C erhitzt wird. Stärke und Asparagin sind reichlich in Kartoffeln enthalten, die bei 180°C zu Pommes frites gebacken werden. Acrylamid ist eine Verbindung, von der angenommen wird krebserregend zu sein. „Wir kennen noch nicht den Wirkungsmechanismus, durch den das Acrylamid Krebs verursacht. Aber es wurde eindeutig nachgewiesen, dass Acrylamid bei Labortieren Krebs auslöst“, erklärt die Forscherin Janneke Hogervorst von der Universität Hasselt in Belgien8 und weist auch darauf hin, dass Acrylamid als Nervengift anerkannt ist. Die EU hat daher 2017 einen Leitfaden für einen vorbildlichen Umgang verabschiedet, um den Acrylamidgehalt in Lebensmitteln zu begrenzen9.
Nach derzeit verfügbaren Daten würden jedoch erste schädliche Wirkungen von Acrylamid erst bei regelmässigem Verzehr von... mehreren Kilogramm Pommes frites pro Tag auftreten10. Dies ist jedoch kein Grund, nichts zu tun. Es gibt Lösungen, um den Verzehr gesünder zu machen: Kartoffelsorten mit geringerem Zuckergehalt verwenden oder bei Temperaturen unter 175°C frittieren. Auch die Lagerung beeinflusst den Acrylamidgehalt. Unter 6°C wird die Bildung von Acrylamid begünstigt, über 8°C wird das Auskeimen eingeleitet. Der Leiter für wissenschaftliche und öffentliche Fragen für Kontinentaleuropa bei McCain Foods, Pierre Gondé, erklärt, „dass breitere Pommes frites den Fettgehalt begrenzen.“
Allerdings ist nicht alles schlecht an Pommes. Für tiefgefrorene Pommes frites werden die Kartoffeln einfach geschnitten, blanchiert und ohne alle Zusatzstoffe eingefroren. Pierre Gondé erklärt, dass die Produktqualität bereits an der Farbe erkennbar ist: Von bräunlichen Pommes nach dem Frittieren ist abzuraten. Die Herstellerbranche hat ausserdem einen praktischen Online-Leitfaden herausgebracht, der Verbrauchern11 hilft, diese kleine Sünde so gesund wie möglich zuzubereiten. Ganz bestimmt sollten Pommes frites mit ein wenig Vernunft genossen werden.
BORCH, Daniel et al., 2016. Potatoes and risk of obesity, type 2 diabetes, and cardiovascular disease in apparently healthy adults: a systematic review of clinical intervention and observational studies. The American Journal of Clinical Nutrition. 08.2016. Vol. 104, n° 2, pp. 489-498. DOI https://doi.org/10.3945/ajcn.116.132332.
CONSOGLOBE, 2012. Consommation de frites dans le monde. Planetoscope [online, abgerufen am 12.02.2018]. Nachzulesen unter: https://www.planetoscope.com/restauration/463-consommation-de-frites-dans-le-monde.html
ELLE VIDÉOS, 2012. Le fish and chips version Ducasse [online]. Levallois-Perret, 18.07.2012. [abgerufen am 12.02.2018]. Nachzulesen unter: http://videos.elle.fr/Videos/Le-fish-and-chips-version-Ducasse
EUROPEAN POTATO PROCESSORS’ ASSOCIATION, 2018. Golden Frying Recipe. Goodfries.eu [online, abgerufen am 12.02.2018]. Nachzulesen unter: http://goodfries.eu/fr/
FAO, WHO. Safety evaluation of certain contaminants in food. WHO food additive series, 2011, vol. 63. [online, abgerufen am 26.02.2018]. Nachzulesen unter:http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/44514/1/WHO_TRS_959_eng.pdf
GONDÉ, Pierre, 2018. Acrylamide une nouvelle réglementation (Règlement (UE) 2017/2158). Frites et chips [online]. Webinars 16 & 23.03.2018. [abgerufen am 08.11.2019]. Nachzulesen unter: https://www.ania.net/wp-content/uploads/2018/04/Webinar-Acrylamide-Frites-Chips-Ania160318.pdf
GROUPE DÉPÊCHE DU MIDI, 2017. Dans le secret des cuisines des grands chefs étoilés d’Occitanie. Franck Putelat l’électron libre de la Cité. Groupe Dépêche du Midi [en ligne]. 06.2017. [abgerufen am 12.02.2018]. Nachzulesen unter: https://groupedepechedumidi.atavist.com/dans-le-secret-des-cuisines-des-grands-chefs-etoiles-occitanie
LYON, Carole, 2017. 1er août 2017. Belgique. La frite belge ce précieux patrimoine. Courrier international [online]. Paris, 01.08.2017. [abgerufen am 12.02.2018]. Nachzulesen unter: https://www.courrierinternational.com/article/belgique-la-frite-belge-ce-precieux-patrimoine
OUHTIT, Allal et al., 2014. Potato chips and childhood: What does the science say? An unrecognized threat? Nutrition. 10.2014. Vol. 30, no 10, pp. 1110–1112. DOI https://doi.org/10.1016/j.nut.2014.01.008.
SANTÉ CANADA, 2016. Les guides alimentaires du Canada. Gouvernement du Canada [online]. 01.09.2016. [abgerufen am 12.02.2018]. Nachzulesen unter: https://www.canada.ca/fr/sante-canada/services/guides-alimentaires-canada.html
VREUGDENHIL, Dick et al., 2007. Potato Biology and Biotechnology. Oxford : Elsevier.
L’histoire de la frite vue par Pierre Leclercq :
http://www.musee-gourmandise.be/fr/musee/77-articles-fond/132-la-veritable-histoire-de-la-frite#n1
Acrylamide et réglementation européenne :