Die Freuden der Askese
Seit 2500 Jahren lebt die Glaubensgemeinschaft der Jain streng asketisch. Shivani und Sanjeev Bothra sind nach Gangashahar gereist und haben die Mönche und Nonnen zum Thema Genuss befragt.
Wir machten uns auf eine zweitägige Reise in die Stadt Gangashahar, 250 Kilometer von unserer Heimatstadt Jaipur entfernt, um die Ursprünge der Freuden der Askese zu erkunden. Mein Mitstreiter Sanjeev wollte die Wesensart der Mönche und Nonnen mit der Digitalkamera einfangen; ich wollte ihre Freude in Worten festhalten. Gangashahar schien uns genau der richtige Ort dafür zu sein, denn dort hatten sich 500 Jaina-Mönche und Nonnen für ein alljährliches Fest zusammengefunden.
Der Jainismus ist eine sehr alte Religion Indiens, die oft als „Religion der Askese“ bezeichnet wird. Es gibt zwei Hauptzweige – Digambara und Shvetambara; in beiden Sekten sind Askese und Gewaltlosigkeit zentrale und prägende Elemente. Wie genau sieht also die Askese der Jaina aus? Drei Dinge fallen auf: Die Mönche tragen weiße Gewänder und einen rechteckigen Mundschutz oder sind völlig nackt. Zum zweiten gehen die Mönche barfuss. Schliesslich sieht man Asketen mit beseelten Gesichtern, die ihr Wissen weitergeben. Auch Strenge und ein regelmäßig abzuarbeitender Katalog an Regeln und Vorschriften gehören zur Askese. Als Nichtasketin frage ich mich, warum sich Menschen solchen Regeln unterwerfen, was Mädchen und Jungen, Frauen und Männer dazu treibt, ihre Familie, gut bezahlte Posten und die Annehmlichkeiten des Lebens im 21. Jahrhundert freiwillig aufzugeben?
Spät in der Nacht kamen wir an und machten es uns im Gästehaus gemütlich, etwa einen Kilometer von dem grossen gemeinschaftlichen Anwesen entfernt, in dem die Mönche lebten. Die Nonnen, die in der Überzahl waren, wohnten in kleinen und grossen havelis (traditionelle Häuser), die ihren Anhängern gehörten. Als wir am nächsten Morgen früh aufwachten, lag draussen dichter Nebel, der alles ruhig und friedlich machte. Die beschauliche, stille Atmosphäre des kleinen Städtchens schien ganz im Einklang mit der heiteren Präsenz der Mönche und Nonnen zu sein.
Aus den Geschichten und Erzählungen meiner Kindheit hatte ich starke Bilder der Askese im Kopf: Die Jainas waren in meiner Vorstellung dünne, ausgemergelte und abgerissene Wanderer. Ich wusste, dass sie außer einem Topf für das Almosensammeln und einen „Besen“ – mit dem sie die winzigen Kreaturen auf dem Boden vorsichtig wegfegten, um sie nicht zu zertreten – nichts weiter besassen. Einiges in meiner Vorstellung war zwar zutreffend, aber was die müden, hageren und gequälten Gesichter anging, lag ich absolut daneben.
Ich stand inmitten einer Ansammlung von Asketen, die sich über eine Fläche von einem Quadratkilometer verteilten. Die Mönche und Nonnen waren in kleine und grosse Gruppen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben eingeteilt. Viele waren damit beauftragt, Almosen zu sammeln, andere stickten, wuschen, lasen und schrieben. Im grossen Saal waren verschiedene Gruppen der Hausbesitzer mit den Asketen ins Gespräch vertieft, zugleich scharten sich Menschen um einige andere Asketen. Alle schienen so beschäftigt, dass ich die Ruhe nur ungern stören wollte, bis ich einen alten Mönch mit mitfühlenden Augen entdeckte.
„Was sind die Freuden der Askese?“
Ich wollte mir seine Erfahrung zunutze machen und fragte ihn, was denn, abgesehen von der Kleidung, der grundlegende Unterschied zwischen den beiden radikal unterschiedlichen Lebensweisen sei – Asket und Laie? Der Mönch erwiderte: „Ein Laie ist an seinen Körper, die Familie, die Gesellschaft, die Nation und die Welt um ihn herum gebunden, während der Asket davon losgelöst ist. Ein Asket ist an die Seele gebunden, die ewig ist und zu jeder Zeit existiert – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch ein Asket kann den physischen Körper nicht ohne weltliche Güter unterhalten und pflegen, aber er kann mit Distanz gegenüber materiellen Besitztümern leben. Das Verlangen nach Essen, Kleidung und Unterkunft ist die Ursache für Unzufriedenheit, und der Asket ist frei von diesen weltlichen Dingen.“ Mir erschien diese allgemeine Botschaft philosophisch einleuchtend und sehr reizvoll.
Deshalb fragte ich eine junge Nonne ganz direkt: „Was sind die Freuden der Askese?“ Sie antwortete mit einer rhetorischen Frage: „Überlegen Sie selbst: Nennt man es Freude, anderen Menschen Hindernisse in den Weg zu räumen? Letztendlich leben wir in derselben physischen Welt wie Nichtasketen. Auch wir essen, trinken oder reisen über weite Strecken, aber der grundlegende Unterschied unserer Lebensweise besteht darin, dass wir als Asketen nicht bewusst die Freude eines anderen Lebewesens behindern oder beeinträchtigen.
Was die Freude und das Glück mit dem Essen betrifft, steht es mir als Laie frei, aus einem schier endlosen Angebot von Dingen auszuwählen. Ich schlage mir den Bauch voll, bis ich satt bin, aber fühle mich danach oft schwer und unfroh. Also fragte ich sie, worin denn beim Almosensammeln die Freude bestehe. Sie antwortete: „Die Freude liegt darin, den Regeln des Almosensammelns zu folgen.“
Können die Asketen isoliert von der physischen Welt um sie herum leben?
Diese Aussage machte mich neugierig, und ich begann mich intensiver mit ihrer Art und Weise des Essens zu befassen. Die Regeln sind je nach Sekte unterschiedlich. Manche nehmen nur einmal am Tag Essen an, andere zwei oder drei Mal am Tag. Allerdings bereiten Jaina-Mönche und Nonnen weder selbst Essen zu, noch lassen sie es andere zubereiten. Von ihrem Glauben her gehen sie davon aus, dass die Laienanhänger je nach ihren Möglichkeiten das beste Essen darreichen, um für das Wohlergehen der Bettelmönche zu sorgen. Obwohl die Hausbesitzer sehr reichlich Essen anbieten, nehmen die Mönche und Nonnen nur kleine Portionen in ihren Schüsseln entgegen. Diese Art des Almosensammelns wird als gochari bezeichnet, was „grasende Kuh“ bedeutet. So wie Kühe von Weide zu Weide ziehen und Gras fressen, ohne es zu entwurzeln, so gehen auch die Jaina-Bettler von Haus zu Haus und nehmen nur kleine Essensmengen an, so dass die Familie nicht zusätzlich kochen muss.
Auf dem Weg zum Almosensammeln
Die Jaina-Asketen akzeptieren nur rein vegetarisches Essen, wobei sie bestimmte Wurzelgemüse, wie zum Beispiel Zwiebeln, Knoblauch, Kartoffeln oder Möhren meiden. Ihr Frühstück besteht nur aus Obst, Milch, Haferbrei und Nüssen. Für das Mittagessen sammeln sie chapati (indisches Brot), gegartes Gemüse, Reis und Linsen. Auch das Abendessen ist eine ganz normale vegetarische Mahlzeit. Milchprodukte sind für die Jaina-Mönche und Nonnen kein Problem. Allerdings achten sie streng darauf, vor Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang nichts mehr zu sich zu nehmen – nicht einmal Wasser.
Als wir nach zwei langen Tagen zurückfuhren, musste ich daran denken, wie ich die Mönche und Nonnen am Nachmittag ohne äußere Kühlung selig hatte schlafen sehen und auch, wie sie sich selbst in den kältesten Nächten wohl fühlten. Es scheint, dass Askese die spirituelle Reise eines Individuums losgelöst von allen weltlichen Dingen ist. Aber können die Asketen wirklich isoliert von der physischen Welt um sie herum leben? Sind sie als Weltbürger nicht besorgt über die vielen Probleme auf der Welt, die dringend gelöst werden müssten? Was können sie gegen die dringendste Not auf der Welt unternehmen? In meinen Augen besteht eine asketische Lebensweise darin, zu gehen, zu essen und materielle Güter nur aus Notwendigkeit und nicht aus Gier zu besitzen. Für eine auf Geld beruhende Wirtschaft mag eine solch minimalistische Lebensweise nicht einträglich sein, aber in ökologischer Sicht ist sie auf jeden Fall sinnvoll.
Während ich aus ihren Antworten diesen Text zusammenstellte, fühlte ich mich selber motiviert, ein paar kleine Schritte zu unternehmen, die mich einer gewaltlosen Lebensweise näherbringen. Was ich beitragen kann? Mich auf den Besitz von weniger Gadgets, Kleider, Schuhen und Taschen beschränken – und zufrieden essen und leben.