Die weisse Sosse
Ich muss da durch. Ich weiss es und sage es mir auch immer wieder, aber ich schaffe es nicht...
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Ich muss da durch. Ich weiss es und sage es mir auch immer wieder, aber ich schaffe es nicht. Meine kurzen Beine schmerzen. Meine Füsse fühlen sich schwer an in der Sosse. Ein Schritt nach dem anderen. Ich habe Angst, mit den Schuhen stecken zu bleiben, sie zu verlieren und hinzufallen. Ich habe Angst, in der immer dicker werdenden Sosse zu versinken. Es war meine Grossmutter, die immer sagte: „Je länger du sie rührst, desto dicker wird sie“. Wie Rührstäbe stecken meine dünnen Waden im Dilemma: Entweder bleibe ich still stehen, und die Sosse bleibt dünn, oder ich gehe weiter, und sie dickt ein. Wenn ich aber bleibe, wo ich bin, komme ich nie durch. Und wenn ich nicht durchkomme, sterbe ich.
„Du kannst den Rest morgen essen“, sagte sie. Am Ende der Mahlzeit ̶ den Blumenkohl in weisser Sosse habe ich nicht angerührt ̶ schickte mich Grossmutter hinaus in den Flur. Jedesmal zünde ich das Licht an und setze mich auf die unterste Treppenstufe. Ich schaue auf den mit der Gabel zerdrückten Blumenkohl, der in der immer dicker werdenden weissen Sosse liegt. Das Licht geht aus. Ich stehe auf, zünde es wieder an. Der Blumenkohl in der weissen Sosse hat sich nicht bewegt. Ich setze mich wieder hin und starre ihn an, als könnte ich ihn mit den Augen essen. Aber dazu braucht es wohl mehr als die drei Minuten Licht. Jedes Mal muss ich wieder aufstehen und es erneut anzünden. Und der Blumenkohl bewegt sich nicht. „Er verschlingt sie mit den Augen“, hörte ich kürzlich meine Grossmutter sagen. Sie sprach von meinem grossen Bruder. Aber ich weiss nicht, was er mit den Augen verschlungen haben soll. Verstehen sollte ich es später: Es handelte sich dabei um ein Mädchen und nicht um weisse Sosse mit Blumenkohl, den übrigens mein Bruder gerne mag. Er bat sogar meine Grossmutter, sie solle ihm an seinem Hochzeitstag Blumenkohl in Sosse zubereiten. Sie lachte. An diesem Tag werden mich die Würmer längst gefressen haben, antwortete sie. Ich verstand nicht. Die anderen lieben es, zu essen. Dauernd reden sie davon. Und ich verstehe nicht alles, was sie sagen.
Die Sosse klebt an meinen Waden, als etwas Weiches und Lauwarmes auf meine Wange klatscht. „Es ist Krieg“, schrie kürzlich mein grosser Bruder. Seit Mama einen neuen Liebhaber hat, sehen wir sie kaum. Sie lebt mit ihm, und wir mit Grossmutter. Fragen wir, wann sie wiederkommt, antwortet Grossmutter, dass wir alt und grau werden, bis die hoffnunglos Verliebte sich an uns erinnert. Meinen grossen Bruder nervt das. Am Sonntagmorgen sagte er, er esse nicht mit uns, er werde Mama suchen. Er warf seinen Teller auf den Boden, wo der Vache-qui-rit-Käse auf den gelblichen Platten zerbröckelte. Grossmutter gab ihm eine Ohrfeige. Darauf angelte mein Bruder die Milchhaut aus seiner Tasse, schrie und warf sie ihr ins Gesicht, wo sie auf der Wange kleben blieb. Grossmutter hat sie abgenommen und gegessen, als ob nichts wäre. „Man sieht, dass ihr nie habt Hunger leiden müssen“, sagte sie. Ihr wisst nicht, was Krieg bedeutet.
Gedämpft höre ich die Bomben und die Schüsse. Alles ist weiss in diesem klebrigen Land. Ich, das Waisenmädchen und Überlebende der Bombardierung, stapfe knietief in der Sosse, und Milchhäute fliegen mir um den Kopf. Ich weiss, Mama und mein grosser Bruder liegen tot unter den Trümmern, die sich mit der Sosse vermischen. Ich müsste schreien, damit Grossmutter mich finden kann. Aber wenn ich den Mund öffne, füllt sich er sich mit weisser Sosse. Also halte ich ihn geschlossen. Ich sage nichts. So, wie ich nichts esse, wenn ich auf der Treppenstufe sitze. Ich stapfe weiter. Ich versinke. Vielleicht geht diese Sosse ja irgendwann aus mir raus. Manchmal sehe ich im Hinterhof weisse Hundekacke. Ich denke, die ist von Max, dem Hund von Frau Roulet von gegenüber, der die Reste des Blumenkohls in weisser Sosse auffrisst. Wenn Grossmutter auch sagt, den Rest könne ich morgen aufessen, ist am nächsten Tag immer alles weg. Ich denke, sie verfüttert alles an Max. Ich jedenfalls, werde niemals davon essen. Ich will keine weissen Häufchen kacken.
Abends, wenn Grossmutter zur Ruhe kommt, bringt sie mich zu Bett. Früher erzählte mir Mama eine Geschichte. Sie nahm ein Buch, blätterte darin und zeigte mir die Bilder von Schneewittchen oder der Fee Tinkerbell. Grossmutter kennt nur zwei Geschichten: Die von ihren beiden Söhnen, die im Krieg bei den Bombardierungen umgekommen sind, und die des kleinen Mädchens, das nicht essen wollte. Ich schlafe ungern ohne Geschichte ein, aber ihre mag ich nicht. Die von ihren toten Söhnen ist eine wahre Geschichte, die kenne ich auswendig: Grossmutter kümmerte sich um Mama, während die beiden grösseren Brüder in der Schule waren. Eine amerikanische Bombe legte deren Klassenzimmer in Schutt und Asche und tötete auch ihre Söhne. Was blieb, war ein ekelhaft schleimiger rot-beige-weisser Brei aus Mauerteilen, Kinderkörpern und Kreide. Und Grossmutter weinte so sehr, dass sie über Nacht ergraute. Die Geschichte über das sich gegen das Essen sträubende Mädchen ist erfunden, das weiss ich: „Es gab einmal ein Mädchen, das nicht essen wollte. Sie ist so dünn geworden, richtig mager. So mager, dass die Geschichte schon fertig ist. Gute Nacht, schlaf gut.“ Wenn man da nicht von weisser Sosse und Milchhaut träumt. Ich schreie nach Mama, aber niemand hört mich. Ich bin fünf, vielleicht sechs Jahre alt. Ich muss dieses weisse Land durchqueren. Ein häufig wiederkehrender Albtraum, der mich lange Zeit aus dem Schlaf brachte.
Grossmutter hört nicht mehr gut. Sie ist alt. Mein grosser Bruder sagt, dass sie die Radieschen bald von unten sieht, doch ich weiss nicht, warum sie das machen soll, und wir haben auch keine Radieschen im Haus. Zum Dessert gibt es manchmal Haferbrei, was aber eher als Abendessen gilt. Er ist flüssig und die Haferflocken bleiben im Hals stecken, auch zuckert sie ihn viel zu wenig. Also sitze ich wieder draussen auf der Treppenstufe mit meiner Schüssel und dem Licht-Zeitschalter. Meine Grossmutter sagt, sie sei meiner Launen überdrüssig, sie hängten ihr zum Hals raus. Und wenn sie weisse Schlafkörnchen in den Augenwinkeln hat, frage ich mich, ob sie zu viel Haferbrei gegessen hat, oder ob es meine Launen sind.
Am Tag als meine Grossmutter stirbt, ist mein Bruder schon in der Lehre. Er sagt mir, sie sei gestorben und habe sich völlig entleert. Nichts sei mehr weiss. Die Bettlaken und ihr Nachthemd seien voll brauner stinkender Kacke gewesen. Sie hätte wohl mehr Blumenkohl oder Haferbrei essen sollen. Ich flüchte ins Treppenhaus, weine und zünde nicht mal das Licht an. An diesem Tag gerät mein Leben durcheinander. Frau Roulet kommt mich holen und sagt, dass sie nun meine Mama und auch Grossmutter sei. Mein grosser Bruder zieht zu unserem Onkel, von dem ich bisher, obwohl schon zwölf Jahre alt, nichts wusste. Sie ist nett, die Frau Roulet, aber oft verwechselt sie mich und nennt mich Max.
Frau Roulet sagt, dass Liebe durch den Magen gehe und sie mich aufpäppeln müsse. Sie macht Cremen und Mousse au Chocolat für mich. Ich traue mich weder zu probieren, noch sie zu fragen, ob ihr Hund Max bei seinem Tod vor zwei Jahren braune oder weisse Kacke ausgeschieden hatte. Sie sagt zu mir, ich solle essen, und das bei jeder Mahlzeit. Sie macht mir Pausenbrote, die ich an die Mädchen meiner Klasse verteile, und fragt mich, was ich am liebsten mag. Ich weiss nicht, was antworten. Ich streue gerne Salz auf meine Hand und lecke es auf, was mich an die Tränen auf der Treppe erinnert. Ich mag trockenen Zwieback. Und dunkles Brot mit Cenovis. Sie sagt, das reiche nicht um zu wachsen, aber grösser werde ich trotzdem und überrage sie bald.
Frau Roulet hätte gewollt, dass ich Mama oder Grossmutter oder Tante zu ihr sage, aber es ist mir nie gelungen, sie so zu nennen. Sie geht einkaufen, füllt den Kühlschrank sowie die Schränke und sagt mir, ich solle essen, was ich wolle. „Du bist jetzt gross“. Ich antworte: „Danke Danielle“. Und sie geht mit einer Freundin ins Restaurant. Mich lädt sie nicht ein, denn es war immer das Gleiche: Jedesmal, wenn wir zusammen im Restaurant waren, zahlte sie die Rechnung, und mein Teller war noch halbvoll. Daher findet sie, es sei besser so, ich sei ja gross und könne mir kochen, was ich wolle. Aber da ich nicht weiss, was ich will, esse ich Schokoladenkekse, dann folgen Cornichons, weil ich angewidert bin. Und danach, weil der saure Essig im Magen brennt, gibt es Brot. Dazu trinke ich einen Liter kalten Tee und esse die Kekse auf, damit sie die angebrochene Schachtel nicht sieht. Dann schlafe ich erschöpft ein. Es ist lange her, seit ich das letzte mal durch das weisse Land stapfen musste. Aber in jener Nacht, war es wieder soweit. Wie früher. Ich muss da durch, weiss es und sage es mir immer wieder, aber ich schaffe es nicht. Meine jetzt wieder kurzen Beine schmerzen. Meine Füsse stecken in der Sosse fest. Die Bomben krachen und die Milchhäute fliegen so tief, dass ich mich ducken muss, um ihnen auszuweichen. Aber mein Magen ist so voll, dass ich mich kaum bücken kann. Im Traum weiss ich, dass ich fünfzehn bin, und dass es nutzlos ist, Mama zu schreien. Trotzdem öffne ich mit aller Kraft den Mund. Ich wache auf und übergebe mich.
Emmanuelle Ryser
Diese Kurzgeschichte wurde mit dem dritten Preis zu gleichen Teilen des im Herbst 2020 vom Alimentarium veranstalteten Wettbewerbs Über Nahrungsekel schreiben ausgezeichnet.
(Übersetzt vom französischen Original ins Deutsche)