Ekelgeschichte
Mutti nimmt den kleinen Bruder bei der Hand. Der Grosse passt seine Schritte denen des Vaters an. Gleich werden sie bei Familie Camenzind sein...
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Mutti nimmt den kleinen Bruder bei der Hand. Der Grosse passt seine Schritte denen des Vaters an. Gleich werden sie bei Familie Camenzind sein. Frau Camenzind habe sie alle zum Mittagessen eingeladen, es gebe Käsekuchen. Er wundert sich. Käsekuchen zum Mittagessen? Zu Hause in Berlin gab’s manchmal Käsekuchen am Sonntagnachmittag. Am Samstag hat Mutti immer einen Sonntagskuchen gebacken. Den Käsekuchen mochte er immer am liebsten. Aber hier in der Schweiz ist alles anders. Vor zwei Tagen sind sie hier in diesem Bergdorf angekommen, und er fand es gleich schrecklich. Berge verdecken fast den ganzen Tag die Sonne. Heute Morgen musste er erstmals in die Schule. Die anderen Kinder haben ihn angestarrt, und er hat kein Wort dieser komischen Sprache verstanden. Vati hatte doch erzählt, hier würden sie deutsch reden, und er werde schnell Freunde finden. Dabei will er nichts anderes als zurück nach Hause, nach Berlin.
Frau Camenzind empfängt sie herzlich, wischt ihre Hände an einer karierten Schürze sauber, führt sie direkt in die grosse Küche, wo ein langer Tisch gedeckt ist. Es riecht komisch. Nach geschmolzenem Käse und Speck. Nirgends ein Käsekuchen zu sehen, auch keine Schlagsahne. Die vier Camenzind-Kinder stürmen herein, dahinter taucht Herr Camenzind auf, der Lehrerkollege seines Vaters. Beklommen setzen sich die Gäste an den Tisch. „Ich habe nebst Käsekuchen auch noch Spinatkuchen gebacken“ verkündet Frau Camenzind. Ihm dreht sich fast der Magen um. Spinatkuchen. Was das wohl Schreckliches ist? Kuchen liebt er. Aber Spinat? Igitt! Frau Camenzind stellt einen Teller vor ihn hin. Ein halbes Stück von etwas Undefinierbarem, das nach Käse riecht. Und ein halbes Stück, auf dem eklig grüner Spinat liegt. Mit Schwung platziert sie noch ein Häufchen grünen Salat daneben. Dann müssen sie sich an den Händen fassen und den Kopf senken. Herr Camenzind spricht das Tischgebet. „Guten Appetit“ ruft er anschliessend, und alle beginnen mit Messer und Gabel diese Stücke zu traktieren.
Was soll er nun tun? Vorsichtig schiebt er sich ein kleines Stück dieses Undefinierbaren in den Mund. Schmeckt gar nicht so schlecht wie erwartet. Fast wie Toast Hawaii, den Mutti manchmal macht. Nur eben ohne Ananas und Kirsche. „Dir schmeckt wohl unser Käsekuchen“ nickt Frau Camenzind. Er nickt zurück. Aber was soll er mit diesem Spinat? Auf keinen Fall kriegt er den runter. Sein kleiner Bruder schiebt das Stück hin und her. Dann verkündet er, er müsse dringend aufs Klo. „Du warst doch erst zu Hause noch“, raunt seine Mutter betreten. Frau Camenzind lacht und zeigt zum Flur. Der Kleine rutscht vom Stuhl und eilt nach draussen. Nur ihm, dem Grossen, fällt auf, dass das Spinatstück vom Teller seines Bruders verschwunden ist. Aber er kann doch nicht auch aufs Klo. Mutti schaut ihn schon ganz streng an. Er schiebt sich angewidert ein Salatblatt in den Mund und schiebt es hin und her. Es schmeckt ölig und sauer. Er kaut und kaut, würgt es runter. Es schmeckt scheusslich. Mit Zucker ginge es besser. Aber es steht keine Zuckerdose auf dem Tisch. Irgendwie muss er dieses zähe Zeug runterkriegen. Aber was um Himmels Willen macht er mit dem Spinatkuchen? Hilfesuchend schaut er zu Mutti. Sie weiss doch, dass er Spinat nicht mag, aber sie schaut stur auf ihren Teller, macht ein verkniffenes Gesicht. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl rum. Er schwitzt in seinem gebügelten Hemd. Seine Lederhose klebt ihm an den Beinen. Wenn er sich doch nur unsichtbar machen könnte. „Iss endlich, sonst wird es kalt“, fordert Vati mit gestrengem Lehrerblick. Die Camenzind-Kinder wollen alle noch ein weiteres Stück. Frau Camenzind ist beschäftigt mit Verteilen. Plötzlich rutscht ihr ein Stück von der Schaufel und fällt zu Boden. Herr Camenzind bückt sich, die Kinder grinsen. Vati und Mutti schauen angestrengt auf ihre Teller. Das ist die Gelegenheit. Schnell nimmt er das Spinatstück, rollt es zusammen und steckt es in die Hosentasche. Niemand hat es in der Aufregung bemerkt.
Beim Verabschieden schütteln sich die Erwachsenen die Hände. „Herzlichen Dank, das war prima“ bedankt sich Mutti. Und auf dem Heimweg meint sie zu den Kindern: „Das war ungewohnt, aber gar nicht mal so schlecht.“ Er hält seine Hand vor die ausgebeulte Hosentasche. Zum Glück hält das Leder die Nässe zurück. Er schwört sich: Nie, nie, nie wird er Spinatkuchen essen! Und er will einfach schnellstens wieder zurück nach Berlin.
Marlise Schläpfer Heilmann
Diese Kurzgeschichte wurde mit dem dritten Preis zu gleichen Teilen des im Herbst 2020 vom Alimentarium veranstalteten Wettbewerbs Über Nahrungsekel schreiben ausgezeichnet.