Geschärfte Sinne
Ein Name, zwei Sterne für die Entenlebermousse...
©David Todd McCarty
Ein Name, zwei Sterne für die Entenlebermousse. Die Doppelrahm-Schneckencreme. Den Trüffelhummer. Die weit gerühmte Rindsbacke auf kandierter Zitrone. Die Brennesselrollen, die mehr als einen Gast an den Rand der Ekstase brachten. Seine Kreativität erstaunt den feinsten Gaumen, sein Sinn für Kontraste und seine Kompositionen macht jedes Gericht zu einem Geschmackserlebnis. Eine Spitzenküche, ausgeklügelt und ständig erweitert, bei der jedes Aroma eine Entdeckung ist. Mit einer persönlichen Note, wiedererkennbar unter Tausenden.
Im Speisesaal eine elegante, zuvorkommende und freundliche Bedienung. Auf jeden Wunsch, jedes Anzeichen von Ungeduld reagierend. Mit einer Prise Humor für eine gelöste Stimmung. In der Küche ein eingespieltes Team, das ohne lautes Wort arbeitet. Kongenial im Zusammenspiel mit den Kellnern. Jeder Handgriff mit fast chirurgischer Präzision. Durch feinste Aromen geschulte Gaumen, fähig, in einem Bissen mindestens dreissig Gewürze und Zutaten zu erspüren.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Produkt. Höchste Qualität, die Robin persönlich an zwei Vormittagen pro Woche auf dem Markt aussucht. Frühmorgens bei den Produzenten. Eine saisonale Speisekarte je nach Angebot. Lokal, biologisch, alles erste Wahl.
Robin wird verehrt, gilt als Vorbild. Nichts scheint den weiteren Aufstieg in den Sternenhimmel aufzuhalten. Bald soll ihm der dritte Stern verliehen werden, der noch mehr Gäste anziehen wird. Wie der Abendstern.
Doch etwas stört ihn. Während er nur die Besten um sich schart, vernachlässigt er die Quote. Vierundfünfzig Angestellte und keine einzige Frau darunter, das geht heute nicht mehr. Das könnte seinem Ruf schaden. Doch das Glück ist ihm hold. Im Bewerbungsstapel auf seinem Schreibtisch liegt auch die einer jungen Frau mit eindrücklicher Karriere. Die Gelegenheit, die Dinge zu ändern.
In den ersten Tagen bewirkt die Neue Wunder. Mit ihrem scharfen Geschmacks- und Geruchsinn nimmt Mathilde die geringsten Anzeichen von Fäulnis bei Früchten wahr. Schnell beschliesst Robin, sie auf seine Touren zu den Bauernhöfen und Gemüsegärtnern mitzunehmen.
Die erste Krise entzündet sich an einem Hummer. Während alle Abläufe genau aufeinander abgestimmt sind, weigert sich Mathilde plötzlich, das Krustentier qualvoll im Wasserdampf umkommen zu lassen. Die Beilagen sind bereit, die nachfolgenden Speisen sind es in zwölf Minuten. Die kleinste Verzögerung stört den reibungslosen Service oder lässt die anderen Gerichte kalt werden, eine echte Katastrophe in der Spitzenküche. Robin, der alles im Auge hat, versucht, die Aufgabe der neuen Mitarbeiterin zu übernehmen. Aber diese hält den Kescher in der einen und ein grosses Fleischmesser in der anderen Hand, wehrt damit jeden ab, der näherkommt.
Eine Verrückte, denkt Robin.
Keine Zeit für einen Aufstand in der Küche, jede Sekunde zählt. Die gedämpfte Stimmung muss erhalten, negative Einflüsse vermieden werden, um nicht die Ordnung durcheinanderzubringen, und das Team bei seiner ehrgeizigen Aufgabe zu stören.
„Komm schon Mathilde“, versucht er es mit beruhigender Stimme, während er sich dem Aquarium nähert, bereit mit blossen Händen einen weiteren Hummer herauszufischen.
Mehr als eine Minute ist vergangen. Wenn man den Hummer im siedenden Wasser statt im Dampf kocht, kann das Desaster noch vermieden werden, in der Hoffnung, dass der Gast nichts merkt. Ein schmerzhaftes Zugeständnis für Robin, der nie Kompromisse eingeht.
Mathilde kommt ihm zuvor. Sie legt das Krebstier rücklings, mit den Beinen nach oben auf ein Brett und halbiert es der Länge nach mit einem einzigen Messerschnitt.
„Folter schmeckt nie gut“, sagt sie und wirft das tote Tier ins Wasser.
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In dem Moment schwört Robin, sie zu feuern. Schweres berufliches Fehlverhalten, Ungehorsam, Gefährdung seiner Arbeit, für die er Schlaf und Privatleben opfert. Er zögert, als er sieht, dass die vier Gäste am Tisch doch noch alle gleichzeitig bedient werden, und ändert seine Meinung, da derjenige, der den Hummer gegessen hat, beim Bezahlen gleich für das nächste Mal reserviert.
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Überall unsichtbare Mauern. Kein Entkommen. Auf allen Seiten schränkt eine Glaswand seine Welt ein, kaum Platz, sich zu drehen. Rundum Artgenossen, eine nie gekannte Enge. Das Gefühl zerquetscht zu werden, Sauerstoffmangel. Unbeholfen, gefesselt in Handschellen. Der Stress der anderen erhöht den seinen. Sie wissen nicht, was mit ihnen passiert, trotzdem eine Qual, die so beklemmend ist, dass sie mit Händen zu greifen ist.
Plötzlich herausgerissen, auf unbekanntem Terrain, verwirrt und gefesselt. Eine kurze Reise durch die Luft, heisser Dampf, höllische Hitze und rundum Stahlwände. Er kämpft, schreit, schlägt um sich. Seine Nerven lösen Warnsignale aus. Er wehrt sich, stützt sich ab, hebt den Deckel an, der wie ein gnadenloses Urteil zurückfällt. Wieder schreit er und wacht an seinem Schrei auf, schweissgebadet, aus allen Poren schwitzend, aber lebend in seinem Bett. Entschlossen den Hummer von der Speisekarte zu streichen. Unwiderruflich.
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Wie gewohnt steht er bei Tagesanbruch auf. Doch für einmal verzichtet er auf den Besuch bei den Produzenten. Montreux-Savona, siebenhundertvierundfünfzig Kilometer, neun Stunden Fahrt hin und zurück. Grosse Freude, als er die elf Überlebenden des Aquariums dem Meer zurückgibt. Er verfolgt sie mit den Augen, zu Tränen gerührt ob deren neu gewonnener Freiheit. Er nutzt den Ausflug, um einige lokale Spezialitäten zu probieren und zu kaufen. Er rast die Kilometer zurück, beflügelt von einem besonderen Gefühl der Zufriedenheit, dem Eindruck tief in sich einen Schatz entdeckt zu haben.
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Seine Euphorie lässt nach, als er die Grenze passiert hat. Er denkt an die Schneckencreme, die er diesen Abend zubereiten wollte, eine Aussicht, die seinen üblichen Elan dämpft und ein beklemmendes Gefühl heraufbeschwört. Bei dem Gedanken an das, was den Bauchfüssern bevorsteht, wird ihm fast übel. Sind es die Kurven oder die vielen Stunden hinterm Steuer, die ihm auf den Magen schlagen? Er klammert sich an diese Erklärung, wohl wissend, dass sie nicht stimmt.
Wo ist seine Freude über die Befreiung der Hummer geblieben, die ihn wie ein Rausch beflügelte? Welchen Sinn macht es, wenn er, kaum zurück, die Lebewesen, die gute zwei Wochen kein Futter bekamen, nun in dreifache Salzladung wirft? Würde Mathilde akzeptieren, sie so grausam zu entwässern? Um sie danach lebend in siedendem Wasser langsam zu kochen? Wie viele Stunden Leiden für ein paar Sekunden Gaumenfreude?
Genervt von seiner plötzlichen Sentimentalität will er den absurden Vergleich aus dem Kopf drängen, doch je intensiver er es versucht, desto mehr setzt er sich fest. So kommt es, wenn man eine Frau einstellt. Nur zehn Tage nach ihrem Arbeitsbeginn läuft schon nichts mehr rund. Ganz klar, er hätte dieses störende Element schon beim ersten Ausrutscher rausschmeissen müssen. Ihm kommt die Galle hoch bei dem Gedanken. Noch bevor er das Auto zum Halten bringen kann, erbricht er in einem Schwall die Wildschweinsalami vom Mittagessen. Ein scheusslicher Geruch von Magensäure erfüllt das Wageninnere.
Robin öffnet das Fenster, spült seinen Mund mit dem Rest Mineralwasser. Er gibt auf. Schade für seine Doppelrahm-Schneckencreme, mit der er es auf die Titelseite der „L’Illustré“ gebracht hatte. Er überlegt sich eine Variante mit Steinpilzen, so verfeinert, dass sie dem Gaumen der Erwachsenen schmeichelt und Kindheitserinnerungen weckt. Trotz allem konnte er sich schon immer neu erfinden.
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Nach seiner Rückkehr aus Italien ist er überrascht, am wöchentlichen Ruhetag Mathilde in der Küche vorzufinden. Sie errötet, fühlt sich auf frischer Tat ertappt, eigenmächtig Überstunden zu machen.
Sie ist wirklich schwer zu führen, denkt Robin, während er versucht, die Zutaten aus den köstlichen, in der Küche herumschwirrenden Aromen der Jakobsmuschelterrine zu erriechen.
„Es ist nur ein Vorschlag für die nächsten Tage, als Alternative für den Hummer“, stammelt sie, um sich zu rechtfertigen.
„Ich hoffe, Sie wollen mich nicht gleich überflüssig machen“, protestiert er und gibt insgeheim zu, dass das Aroma ausgeglichen und fast perfekt ist. „Da Sie schon mal hier sind, können Sie mir helfen“.
Er deutet auf die Kiste voller Schnecken und sieht, wie sie sich verkrampft.
„Also ich, …ähm…“
„Beeilen Sie sich, die Kiste wiegt Tonnen.“
Sie folgt ihm verlegen, überrascht, dass er die Küche und dann das Restaurant verlässt, öffnet auf seine Bitte den Kofferraum und sieht erstaunt, wie er die Kiste hineinstellt.
„Wo bringen Sie die hin?“
„In den Wald. Wir verstreuen sie, wie der kleine Däumling die Kieselsteine. “
„Meinen Sie das ernst?“
Sein Gesicht leuchtet wie bei einem Kind vor dem Weihnachtsbaum.
Sie kommen kurz vor Dunkelheit an. Je leichter die Kiste wird, desto mehr lachen sie. Wie zwei Schlingel, die einen guten Streich spielen. Auch sie werden immer unbefangener.
„Das ist gut für unser Karma“, stellte Mathilde mit so leuchtenden Augen fest, dass er sie am liebsten umarmt hätte.
Die Freilassung der letzten Schnecken löst in ihm dieselbe grosse Freude wie die Ankündigung seines zweiten Sterns aus. Als er ihnen nachschaut, entdeckt er, ein wenig entfernt, plötzlich ein Morchel-Beet.
„Das kommt gerade recht“, meint Mathilde, „wir haben ja Platz in der Kiste.“
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Der Geruch des Unterholzes macht Appetit, und Robin stellt fest, dass er seit dem Vortag nichts mehr gegessen hat. Sie gehen in ein traditionelles Gasthaus, wo bemerkt wird, dass ein mit Michelin-Sternen dekorierter Koch zu Gast ist.
„Erlauben Sie, dass ich sie einlade?“, fragt Mathilde.
Robin willigt ein, erfreut über die unverhoffte Wendung des Tages. Er bestellt ein Seezungenfilet an Rahmsauce, garniert mit Schalotten, Estragon und Senf. Ein feines Gericht, ohne Schnickschnack, Genuss garantiert.
Als die Speisen auf den Tisch kommen, schaut Robin, wie sie angerichtet sind. Nicht sehr originell, aber mit grossem Bemühen. Als er den Fisch zerteilen will, hat er plötzlich das Gefühl, zu ersticken. Sauerstoffmangel, er möchte das Fenster öffnen, die Luft scheint ihm abgestanden, er versucht aufzustehen, fällt auf seinen Stuhl zurück, windet sich, zuckt, jede Bewegung nimmt ihm den Atem. Es ist die Seezunge, die mir die Luft abstellt, sagt er sich und stösst den Teller weg, während Mathilde, der Wirt und die anderen Gäste ihn ängstlich anschauen.
Den Fisch zurückgehen zu lassen, heisst, den Ruf eines Konkurrenten zu ruinieren. Rührt er ihn nicht an, werden es auch andere nicht mehr tun. Er redet sich gut zu, nimmt die Gabel in die Hand und spürt eindeutig den Schmerz des Angelhakens, der wie eine Gräte im Rachen steckt. Nein, er kann einfach nicht. Zudem ahnt er hinter der Harmonie der Sauce eine leichte Ammoniak-Note, Quecksilbergeschmack und Spuren von Ölpest. Dieser Fisch trägt alle Übel in sich, die dem Meer angetan werden.
Entmutigt schiebt Robin seinen Teller ein zweites Mal von sich weg. Der Hunger ist ihm vergangen.
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Ein Jahr später überrascht sein Lokal, das einst für seine Fleischgerichte berühmt war, mit einer komplett veganen Speisekarte. Kompromisslose Qualität, äusserste Sorgfalt bis ins kleinste Detail, eine noch höhere Kreativität als je lässt anfängliche Vorbehalte verstummen. Obwohl kurze Zeit sein Podest wackelt, wird ihm der zweite Stern bestätigt, und es kursieren Gerüchte, dass ihm der dritte verliehen wird.
Mit einem Lächeln auf den Lippen beugt sich Robin über den Basilikumtopf. Er hält inne, als er eine Schnecke sieht, die mit Vergnügen die zarten jungen Blätter der Pflanze frisst, deren Zittern sich wie ein elektrischer Schlag auf ihn überträgt. Es befällt ihn mit aller Kraft die Gewissheit, dass der Basilikum ein Martyrium durchmacht.
Sabine Dormond
Diese Kurzgeschichte wurde mit dem ersten Preis des im Herbst 2020 vom Alimentarium veranstalteten Wettbewerbs Über Nahrungsekel schreiben ausgezeichnet.
(Übersetzt vom französischen Original ins Deutsche)