Die kochenden Revolutionäre
Gänseleber ist nicht wertvoller als Maniok, Insekten sind auch Nahrungsmittel: Die innovativsten Chefs tauschen sich aus und orientieren sich an neuen Erkenntnissen. Sie sind offen für das Ungewohnte.
Es ist eine globale kulinarische Revolution im Gange. Köche und andere Ernährungsprofis engagieren sich für ein neues Vermächtnis: Sie unterlaufen die Lieferkette der globalen Massenproduktion, finden Wege zur Regenerierung der Ökosysteme, kurbeln die Wirtschaft an und propagieren ein neues Ernährungsbewusstsein in unserer Kultur. Die Köche der zweiten Welle, Nachfolger der von Ferran Adrià initiierten ersten Revolution, denken das System der Nahrungsmittelproduktion von Grund auf neu und treiben damit anthropologische - biologische – entomologische Untersuchungen in den innovativsten Kochkulturen auf der ganzen Welt voran. Sie werden zu Botschaftern einer neuen nachhaltigen Ernährung.
Es ist ein radikaler Ansatz, bei dem Wissenschaften wie Botanik und Zoologie, Psychologie und Entomologie jenen Köchen und Farmern zur Hand gehen, die nachhaltigere, zuverlässigere Essweisen finden und dabei die Natur schützen wollen. Auf viele der drängendsten Fragen der Menschheit – Gesundheit, Umwelt, Bildung und Ökonomie – kann Ernährung die Antwort sein. Auf dieser Basis werfen Köche und andere Fachleute auch Fragen der Ethik und der bewussten Ernährung auf. Die Lösungen sind so zahlreich und vielfältig wie die kulinarischen Traditionen der Welt.
Ferran Adrià zeigte als erster, wie aus kulinarischer Leidenschaft eine Wissenschaft werden kann. Allerdings konzentrierte er sich in seiner Forschung vor allem auf Methodologie und Verfahren. In seinem legendären Kochlabor im Restaurant el Bulli an Spaniens Costa Brava hatte er mit seinen Experimenten in den 1990er Jahren neue Kochkonzepte und –methoden kreiert, die über den reinen Geschmack hinaus und in die Kunst über gingen.
In neuerer Zeit geht es den Köchen eher darum, die Vielfalt der kulinarischen Traditionen, sowohl kulturell wie auch biologisch, wiederzuentdecken.
Alex Atalà, Gründer von D.O.M. in Sao Paulo (1999), derzeit einer der brillantesten Köche der zweiten Generation nach der Adrià-Ära, interpretiert die kulinarischen Tradition der brasilianischen Gastronomie auf moderne Weise. „Mit dem Augenmerk auf die Identität brasilianischer Produkte eröffnen wir der Bevölkerung in meinem Land neue Einkommensquellen und leisten einen aktiven Beitrag zum Umweltschutz. Foie gras ist nicht mehr wert als Maniok.“ Er experimentiert auch mit dem Kochen von Insekten und den „dynamischen Geschmacksnoten“, die durch Fäulnis entstehen.
Der Einfluss der Fermentierung
„Dynamische Geschmacksnoten“ sind auch ein Markenzeichen von Kobe Desramaults, dem neuen Star der kulinarischen Szene Belgiens: In seinem belgischen Restaurant In De Wulf kombiniert moderne Verfahren mit jahrhundertealter Kochkunst, Konservierungsmethoden und vor Ort gesammelten Kräutern. „In einem natürlichen Prozess begannen wir nachzudenken, wie sich lokale saisonale Produkte länger haltbar machen ließen, so wie man es früher gemacht hat. Jetzt experimentieren wir mit Konserven, mit Fermentationsprozessen, mit lange haltbaren Produkten,“ sagt Desramaults. „Es ist, als würde man ein Puzzle zusammensetzen. Indem wir dieses Potential und diese Geschmacksrichtungen wiederentdecken, halten wir die Tradition am Leben.“
Kobe Desramaults ist in Dranouter aufgewachsen. Er fühlt sich dort heimisch und freut sich jedes Mal, dorthin zurückzukehren. „Es gibt bei uns nicht jede Saison eine neue Karte, sondern dann, wenn es soweit ist. Ich nenne das „organisch kochen“, weil ich es an das, was um uns herum geschieht, anpassen muss.“ Nachdem er anfangs mit Stickstoff und anderen Techniken der Molekularküche experimentiert hatte, beschloss Kobe, zu seinen Wurzeln zurückzukehren: Er begann, mit regionalen Produkten und Konservierungsverfahren zu arbeiten.
Dabei verarbeitet er keine „exotischen“ Produkte oder Luxuswaren, sondern von lokalen Bauern angebaute Gemüse der Saison, Wildkräuter vom Kemmelberg, Kassel-Lamm, Tintenfisch aus der Nordsee und Seetang von deren Küste. Er kombiniert moderne Techniken mit jahrhundertealter Kochkunst und Konservierungsmethoden und testet, welche Ergebnisse und welchen Geschmack Hefe, Gärung oder Schimmel ergeben. Bekannt ist er unter anderem für dieses Gericht: Junge Taube aus Steenvoorde, die drei Monate lang auf verbranntem Heu reifen muss.
Die neue Rolle des Chefkochs
In den Jahren 2011 und 2012 gab es auf dem MAD-Symposium in Kopenhagen („mad“ heißt auf Dänisch „Essen“) jeweils einen Vortrag zum Verzehr von Insekten. MAD ist ein alternatives „gastronomisches Davos“, das seit drei Jahren Geschmackstrendsetter aus der ganzen Welt in Kopenhagen zusammenbringt. Begründet hat es der mit zahlreichen Sternen bedachte René Redzepi. Dieses Jahr hieß das Hauptthema „guts“ (Eingeweide, aber auch Mumm): Es zielte auf das Natürliche, das Soziale, die Umwelt, das Emotionale, das Kulinarische und das leicht Verrückte. MAD motiviert Starköche zur Verantwortung, ihren Prominentenstatus nutzbringend einzusetzen. „Unser Beruf verändert sich,“ sagt Redzepi. „Köche werden für TED-Talks angefragt, sie werden ins Weiße Haus eingeladen.“ Professionelle Avantgarde-Treffen wie MAD machen deutlich, dass sich Köche heutzutage mit weit grösseren Herausforderungen befassen müssen, als einfach nur einzelne Gerichte herzustellen. Jetzt geht es darum, „Ernährung von einer interdisziplinären Warte aus zu betrachten und generell das Bewusstsein in der Branche zu erhöhen,“ wie es die Organisatoren von MAD formulieren. „Wir wollten besser verstehen, wie wir durch die Gerichte, die wir kochen und kreieren, reifere Köche werden, und auf welche Weise wir positiv auf die Landwirtschaft einwirken können.“
Ein ganz anderes Projekt wiederum ist Cook it Raw. Es entstand im Umfeld von Noma und ist eine Gemeinschaft von Köchen unter Leitung der dynamischen Italieners Alessandro Porcelli, Ex-Basketballspieler und Berater der dänischen und der schwedischen Regierung in Fragen der Ernährung. Cook it Raw veranstaltet jährlich nomadische Kochtreffen, an denen sich einige der einflussreichsten jungen Köche der Welt zusammenfinden. „Bei diesen Veranstaltungen erkunden die Köche einige der spannendsten Gegenden der Welt, von Lappland über Japan bis South Carolina. Dabei nehmen sie sich die Zeit, ausgiebig zu experimentieren, was zu Hause nicht so leicht möglich ist,“ erklärt Porcelli. Allen Köchen gemeinsam ist die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Daraus ergeben sich Freundschaften und kollaborative Projekte. „Vor 10 Jahren wäre das noch undenkbar gewesen: Da hat jeder mit seinen Küchengeheimnissen allein vor sich hin gewerkelt.“
Die Cook it Raw-Gemeinde organisiert sich mit Hilfe von modernen sozialen Netzwerken: Erstklassige Köche treffen auf Hersteller, während die handwerklichen Lebensmittelproduzenten, die auch als Juroren der Nachhaltigkeit fungieren, über ihre persönlichen Leistungen und Ergebnisse berichten. „Die Köche können als Botschafter für nachhaltige neue Wege wirken, als Schnittstelle zu den Akademikern, und so dieses bio-diverse Universum in der Praxis umsetzen,” so Porcelli. Für Porcelli liegt die Zukunft im kleinteiligen Ökolandbau und nicht in der industriellen Landwirtschaft oder den gross angelegten, gewinnorientierten Projekten von staatlichen Behörden und Finanzinstituten. „Nur so können wir überleben.“ Mit Cook it Raw gehen die Köche zur Kräuterernte direkt auf die Felder und in die Wälder, und auf dem Rückweg schauen sie bei den Bauern vorbei: „In jedem Land, das wir besuchen und bei jedem Herstellungsprozess müssen die Nutztiere und Pflanzen geschützt werden. Es gibt überall einzigartige und edle Juwelen zu entdecken.“
Zu den grossen Namen der Cook it Raw-Gruppe gehören u.a. David Chang, Davide Scabin, Pascal Barbot und Massimo Bottura. Im Oktober 2013 waren sie in South Carolina, wo sie sich dem Thema Barbecue widmeten, einem der Grundpfeiler der US-amerikanischen Küche. In diesem Jahr 2014 treffen sie sich auf Yucatán in Mexiko. So erweitern sie diese rein berufliche Zusammenkunft Schritt für Schritt zu einer öffentlichen Veranstaltung.