Schön aussehen tut’s
Das Diktat der Schönheit hat auch die Kochkunst erfasst. Das Foto vom Essen scheint so wichtig wie die Vielfalt kulinarischer Geschmacksnuancen.
Bei der heutigen Kochkunst scheint das Aussehen oftmals wichtiger zu sein als der Geschmack. An dieser Entwicklung haben die Küchenchefs selbst keinen geringen Anteil, veröffentlichen sie doch eifrig Fotos ihrer jeweils neuesten Kreationen. Zwischen Fülle und Leere, glänzender Überladung und nüchterner Übersichtlichkeit bewegen sich die jüngsten ästhetischen Tendenzen in der Gastronomie.
Küche und Ästhetik standen schon immer in einem bewegten Verhältnis zueinander, das beide Seiten bereicherte. Wie schon die Etymologie des Wortes Küche anzeigt, leitet es sich vom Vorgang des Kochens ab, bei dem Rohes in Gekochtes umgewandelt wird. Die Ästhetik spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Auch heute noch wird das bei jeder Hausmannskost deutlich. Vom Falschen Hasen mit Kartoffelbrei zum Eintopf, von den pies der englischen Küche zur Pizza aus Neapel, von den Spaghetti zum Risotto: Was geschmackvoll und lecker ist, muss nicht unbedingt schön aussehen. Unsere alltäglichen Gerichte – und das ist im Grunde auch besser so – stehen nicht unter dem Diktat der Schönheit. Bei ihnen geht es ausschliesslich um den Geschmack, um den Wohlgeschmack, den ein gut zubereitetes und korrekt gewürztes Gericht dem Gaumen vermittelt.
Gegessen wird nur mit den Augen!
Die gehobene Küche hat demgegenüber sehr früh die ästhetische Seite des Essens als Beleg für herausragende Qualität ins Spiel gebracht. Schon im 18. Jahrhundert hat der französische Konditormeister Antonin Carême regelrecht süsse Bildwerke kreiert, die als dekorativer Aufbau gedacht waren. Die Küchenchefs der nouvelle cuisine, unserer Zeit näher, haben die Ästhetik der Gerichte wieder etwas zurückgenommen, um sie mit den verwendeten Zutaten in Einklang zu bringen. Heute nun, da es die sozialen Medien gibt, hat das Visuelle für die zeitgenössische Kochkunst eine ausschlaggebende Bedeutung erlangt. Fotos von Küchenkreationen fliegen im Handumdrehen um die Welt und stimulieren einen Konsum, der nur über das Auge geht. Der sogenannte foodie, der Bewunderer der allerneuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Kochkunst und des Essens, geniesst nicht selten das Foto viel mehr als das eigentliche Gericht.
Ein Fotoapparat für die Küchenästheten
Eine Gruppe von Belgiern, die sich für das Drum und Dran in der Küche engagieren, hat dieser Entwicklung Tribut gezollt und Anfang 2014 eigens einen Fotoapparat für Köche, die rasch ein Konterfei ihrer neuesten Kreation machen möchten, konstruiert. Wenige Monate nach diesem Debüt folgte zum Beleg eine Bildfolge von etwa 6 Fotos aus der Datenbank des belgischen Unternehmens APIC. Mit ihnen erhält der Betrachter eine Momentaufnahme der Küche von heute. Und dazu eine Handhabe zur Lösung der Frage, ob das Schöne der Feind des Guten und des Wohlgeschmacks sei.
Voll oder leer?
Auch heute noch mag mancher Teller bis zum Rand übervoll erscheinen. Es entsteht damit für das Auge der Eindruck einer verschwenderischen Fülle, die einen unmittelbaren Anreiz für den Appetit vermittelt. Der Bratenjus, der sich um das Gericht herum ergiesst, und auch die Sauce sind dazu angetan, die Esslust noch weiter zu kitzeln. Ein derart voller Teller, weil er allzu überladen daherkommt, kann den geläufigen ästhetischen Kriterien allerdings kaum gerecht werden.
Strahlend oder dunkel?
Die traditionelle Küche präsentiert sich zumeist in matten Farben, die an die Stillleben der flämischen Meister erinnern, die seit dem 17. Jahrhundert dem Epikureer das Schlaraffenland vor Augen führen: braun, ocker und tiefrot, Fleisch vom Braten gebräunt, gebundene Tunken und eingelegte Beilagen. Im Gegensatz dazu ist die Küche von heute auf lebhafte und ursprüngliche Farben eingeschworen. Der belgische Meisterkoch Sang Hoon Degeimbre setzt zum Beispiel unbedenklich auf das strahlende Farbenspiel von Blumen, um die optische Wirkung seiner Gerichte zu unterstreichen. Der erzielte Effekt ist denn auch spektakulär, mögen die Farben an sich auch nicht unbedingt appetitanregend sein.
Kompakt oder ausgebreitet?
Der letzte Gesichtspunkt, der auf die moderne Küche einwirkt, hat mit zwei unterschiedlichen Arten der Präsentation eines Gerichts zu tun. Einige Küchenchefs verfahren nach dem Prinzip, die Bestandteile eines Gerichts auf dem Boden des Tellers zu verteilen. Wie die Farben auf der Palette eines Malers, werden sie einzeln auf dem Teller platziert und nehmen sich wie appetitliche Satelliten aus, die nacheinander verzehrt sein wollen. Es liegt also ganz und gar am Geniessenden selbst, mit Hilfe seines Gaumens sein eigenes «Musikstück» zu komponieren.
Bei jedem Happen kann er sich zwischen Säure und Süsse entscheiden. Aufgebracht hat diese Form der Präsentation Meisterkoch Michel Bras, der damit zum ersten Mal 1992 an die Öffentlichkeit trat. Hier ist ein fast kubistisch anmutender Wille zu spüren, die Wirklichkeit durch das Herauslösen einzelner Teile auseinanderzunehmen. Der Effekt ist spektakulär. Andererseits wird der Vorgang des Verkostens eingeschränkt, muss doch jeder Esser einen eigenen Weg zu seiner Gaumenfreude finden.
Die zweite Art der Präsentation besteht darin, das Gericht kompakt darzubieten, indem alle seine Bestandteile als aufeinanderfolgende Schichten aufbereitet werden. Der einzelne Bissen erschliesst sich auf natürliche Weise mit jedem Löffel, der zum Munde geht. Der Esser wird vom Koch geleitet, und dieser setzt alles daran, in dem dargebotenen Geschmackskomplex von einem Bissen zum nächsten je unterschiedliche Varianten zu kreieren. Dieses Verfahren ist der überlieferten Realität der Küche weitaus näher und bietet ein Mehr an Geschmack, mag es auch nicht immer leicht gelingen. Das Ergebnis: Es sieht schön aus und schmeckt auch noch gut!