Raffinierte Genüsse
Farbe und Konsistenz von Speisen entscheiden heute massgeblich über deren Präsentation. Der optische Eindruck der Zutaten weckt Neugier und Appetit.
Mehr und mehr gleicht das, was wir heute auf dem Teller haben, einem Kunstwerk und ist ein Trend, der sich bis in den Mai 1968 in Frankreich zurückverfolgen lässt: Die Geburtsstunde der Nouvelle Cuisine. Im Zuge des Aufbegehrens gegen die Obrigkeit schien alles erlaubt.
«Mittlerweile sind wir zurück bei der überfrachteten Präsentation des 19. Jahrhunderts, die wir in den Anfängen von Gault & Millau angeprangert haben. Bei manchen Gerichten könnte man meinen, sie seien kreiert, um eingerahmt und aufgehängt zu werden!» Das sagt nicht irgendwer. Christian Millau, der Anfang der 1970er Jahre zusammen mit Henri Gault den berühmten Restaurantführer Gault & Millau gegründet hat, macht keinen Hehl daraus, dass ihn das, was er heute auf den Tellern sieht, perplex lässt.
Jahrzehntelang waren Christian Millau, heute Gastrokritiker im Ruhestand, und sein Kollege die beherrschenden Gestalten der französischen Restaurantkultur. Anfang der 1970er Jahre(1) begann sich die Präsentation der Gerichte zu verändern. Vorreiter waren die Brüder Troisgros, die den «amerikanischen Service» (Tellerservice) einführten. Ebenso neu war ihr Degustationsmenü, das mit seinen kleinen Portionen mit der kulinarischen Ästhetik brach. Die Einführung der Nouvelle Cuisine 1972-73 beschleunigte diese Entwicklung. Fortan verwendeten alle grossen Küchenchefs, von Michel Guérard bis Roger Vergé, Jacques Maximin und Freddy Girardet besondere Sorgfalt auf die Präsentation und Anordnung der Speisen. Nach Gil Galasso, Autor eines Buches über die Kunst des Tranchierens, geht mit den «von Christian Millau und Henri Gault verfassten Geboten der Nouvelle Cuisine die Verbreitung des Tellerservice einher, der die althergebrachte Wissenschaft des Maître d’hôtel überflüssig macht»(2).
Der Bruch mit den Traditionen bei einem Traditionsgericht
Nach dem Service à la française, bei dem alle Gerichte gleichzeitig auf den Tisch kommen und sich die Gäste bedienen, und dem Service à la russe (auf dem Beistelltisch präsentiert), wurden die Gerichte nun also tellerweise angerichtet.
Der Food Writer und Essayist Bénédict Beaugé erzählt hierzu folgende Anekdote: «Eines Tages sollten die Brüder Troisgros für Freunde den berühmten Pot-au-feu nach dem Rezept von Dodin-Bouffant zubereiten, ein legendäres Gericht aus einer Fülle an Zutaten. Sie fanden bei ihrem Lieferanten Teller mit einem Durchmesser von 32 cm und beschlossen, das imposante Gericht für jeden Gast einzeln anzurichten.» Der Gedanke war schlüssig: Die Köche haben es in der Hand, wie das Gericht präsentiert wird, die Speisen werden bei richtiger Temperatur serviert, der Verlust ist geringer und die Grösse der Portionen lässt sich präziser bemessen. Der Bruch mit den kulinarischen Gepflogenheiten war vollzogen.
Von den grossen Küchenchefs zum Reality-TV
Fast ein halbes Jahrhundert ist seit den 1970er Jahren vergangen und unentwegt verfeinern die grossen Küchenchefs ihr Werk. Viele sind heute nationale oder internationale Stars, die immer neue Restaurants eröffnen.
Ferne Reisen und das Miteinander der Kulturen bereichern die Präsentation der Gerichte um exotische Elemente. Die Verbreitung von Internet und Reality-TV macht Kochen zum sozialen Phänomen. «Die Darstellung hat erheblich an Stellenwert gewonnen, weil die Gerichte, die wir im Fernsehen oder im Internet gezeigt bekommen, nicht gegessen, sondern angeschaut werden», erklärt Philippe Germain, Verfasser von Visions gourmandes, einem Werk über Food-Präsentation, das im März 2015 erschienen ist. Erstaunlich ist, wie selten das ansprechende Anrichten gelehrt wird. Roger Moulin, Leiter der Culinary Arts Academy in Bouveret, Schweiz, der künftige internationale Spitzenköche ausbildet, bestätigt, dass der Lehrplan keinen solchen Kurs vorsieht. «Wir unterrichten ein wenig Food-Fotografie, nicht aber das Anrichten. In dem Bereich gibt es derart viele Trends, das ist einfach zu schnelllebig!»
Die ansprechende Optik als Gütezeichen
Für Knut Schwander, Leiter der französischen Ausgabe des Gault & Millau für die Schweiz, muss die ansprechende Optik Hand in Hand gehen mit dem kulinarischen Genuss. «Die neuen Techniken, die uns heute in der Küche zur Verfügung stehen, eröffnen neue Möglichkeiten der Präsentation und vor allem der dreidimensionalen Gestaltung. Ich denke da zum Beispiel an Jérôme Manifacier, den Küchenchef des Vertig’O im Hôtel de la Paix in Genf. Manche seiner Präsentationen erinnern mich an verträumte Gärten oder an die Auslagen der grossen Pariser Bijoutiers. Das ist voller Raffinesse. Es sieht traumhaft aus und schmeckt.»
Dafür bedauert der Food-Journalist den Trend, mässig gute Gerichte mit ebenso mässigem, klebrigen Balsamico zu tarnen, der mit Karamell versetzt ist. Das sieht Bénédict Beaugié ebenso. Er zeigt sich auch der Gegenwart von Blüten überdrüssig: «Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin im Restaurant, um an einem Blumenstrauss zu schnuppern. Das finde ich unerträglich.»
Ein leeres Blatt
Die Präsentation unterliegt nicht nur Trends, sie erfordert Talent und macht viel Mühe.
Die berühmten Brüder Pourcel, die das Vorwort für das wunderbare Werk von Philippe Germain verfasst haben, vergleichen den Teller mit einem leeren Blatt. «Er bietet dem Küchenchef gestalterischen Freiraum, Raum für Kreativität, Ideen und Wünsche, die Möglichkeit, seine Philosophie zu vermitteln oder eine Geschichte zu erzählen.» Gleichzeitig unterliegt das Ganze einem strengen Regelwerk (siehe Kasten).
Künftige Trends
Was bringt die Zukunft? War nicht alles schon einmal da? Wir werden uns auch künftig ernähren und Gerichte auftischen. Es bleibt anzunehmen, dass es auch weiterhin immer neue Trends geben wird, gespeist vom Zeitgeist und den neuesten Errungenschaften der Technik. Derzeit sind kulinarische Events im Kommen. Im Pariser Restaurant Dessance beispielsweise werden Desserts ausschliesslich am Tisch vor dem Gast angerichtet. Auch im Internet findet man erste Beispiele für diesen Trend.
Sicher ist: Der Teller wird auch künftig Grundlage für Experimente sein. 2012 rief die Universität Quebec in Montreal zusammen mit dem Institut national d'histoire de l'art in Paris ein Forschungsseminar zur «Artifikation»(3) von Nahrung und Tischkultur ins Leben. Es hat bis heute Bestand.