Chef Alexandre Gauthier
Alexandre Gauthier will seinen Gästen ermöglichen, jenes berühmte Nichts zu entdecken, aus dem alles entsteht.
Der Schweizer Romanautor Martin Suter hat seinen Roman Der Koch den kulinarischen Genüssen gewidmet. Darin beschreibt er die Geschichte von Maravan, einem jungen tamilischen Koch, der seine Kochtalente nutzt, um zu verführen. Darin ist auch Alexandre Gauthier Meister. Schon sehr früh hat er beschlossen, aus dem Kulinarischen mehr als bloss einen Akt des Sich-Ernährens zu machen. Wie Maravan sieht auch er das alleinige Ziel seiner Arbeit darin, den Gästen Genuss zu verschaffen.
Nachdem ihn sein beruflicher Werdegang in einige renommierte französische Restaurants (Coutanceau in La Rochelle, Lasserre in Paris, La Pinède in St-Tropez) geführt hatte, kehrte Alexandre Gauthier sehr schnell wieder in den heimischen Betrieb in Montreuil-sur-Mer im Pas-de-Calais zurück, an die Seite seines Vaters Roland. Das Ambiente ist traditionell, und im Mittelpunkt der klassischen Küche stehen die Frösche – die grenouilles meunières –, von denen es früher in dieser Gegend nur so gewimmelt hat. Als Alexandre die Küche übernimmt, ziehen in die altehrwürdigen Sälen des Gasthauses immer innovativere Gerichte ein. Der Kontrast zwischen den mit dicker Patina überzogenen Mauern und den Tellern, die vor Modernität nur so überborden, könnte nicht grösser sein.
Das Gesamtkonzept von Alexandre Gauthier tritt mit der Renovierung von Restaurant und Hotel im Jahr 2011 deutlich hervor. Es geht ihm nicht nur darum, zu vergrössern und zu verschönern. Er nimmt die Renovierung zum Anlass, seinen Beruf als Küchenchef und Hotelier zu überdenken und die Erfahrungen, die er seinen Gästen vermitteln will, bis ins kleinste Detail zu planen. Bei der Neudefinition dieses Ortes schlüpft Alexandre Gauthier quasi in die Rolle eines Regisseurs. Ein Hauptaugenmerk zieht sich wie ein roter Faden durch alles, was die neue Grenouillère zu bieten hat: Genuss.
Bei dieser Neuerfindung spielen zwei Begegnungen eine Schlüsselrolle. Zum einen ist es der Architekt Patrick Bouchain, der das Lokal neu gestaltet. Bouchain befreit die Gebäude gerne von allen überflüssigen Elementen und hinterfragt ihre Funktion, um die pure Erfahrung umso stärker vermitteln zu können. Im Falle der Grenouillère lässt er sich von den traditionellen Jägerhütten in der Region und von den Erinnerungen an die Pfadfinderzeit inspirieren, die für den jungen Alexandre Gauthier so prägend waren. Zu zweit konzipieren sie ein gewagtes Miteinander und kombinieren die Natur in ihrer wildesten Spielart mit einem Komfort von höchster Güte.
Zum andern lernt Alexandre Vertreter des französischen zeitgenössischen Zirkus kennen, allen voran Jérôme Bouvet von der Compagnie 2 Rien Merci. Mit ihren Spektakeln entdeckt Gauthier laut eigenen Worten, «wie ein Nichts ein Ganzes kreieren kann». Bouvet schafft einen starken Augenblick, indem er mit drei Brotkrümeln jongliert: Die pure Poesie durch Leere. Diese Erfahrung veranlasst Gauthier, seine Vorstellungen von Gastfreundschaft und Genuss neu zu formulieren: Er will den Gästen seines Lokals eine Auszeit verschaffen. Genuss beginnt für ihn zuallererst in den Momenten, die der Kontemplation gewidmet sind.
In einem kulinarischem Universum, das traditionellerweise stark normiert ist, ist Gauthiers Vorgangsweise einzigartig. Die Standardisierung der kulinarischen Landschaft wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts vom Guide Michelin vorangetrieben. Das rote Buch hat seinen Einfluss auf zahlreiche Länder ausgedehnt: Es hat die besten Restaurants ganz einfach mit ein bis drei Sternen bewertet und rigide Codes eingeführt, die bestimmen, was eine gute Küche und einen guten Service ausmachen. Der Guide Michelin hat eine Reihe anderer Restaurantführer inspiriert, die ebenfalls versuchen, Restaurants und Küchenchefs zu klassifizieren und ihre Leistungen zu messen.
Wie viele andere Köche, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben, hat auch Alexandre Gauthier seinen eigenen Weg gefunden, abseits solcher Normen auf sich aufmerksam zu machen. Bei ihm sucht man vergeblich nach jenen Attributen, die namhafte gastronomische Etablissements normalerweise auszeichnen. Er versucht, seine eigene Geschichte zu erzählen und macht das so direkt wie möglich, ungekünstelt, ohne Umschweife. Das ist sicher mit ein Grund, warum sich seine Küche zum Speisesaal hin öffnet.Die Idee ist nicht neu, aber Gauthier setzt sie auf sehr originelle Weise um. Die grandiose Küche, wo jeden Abend ein Dutzend Köche werken, ist zwar offen, aber gleichzeitig wird eine Distanz zum Speisesaal geschaffen: Sie liegt in einem Halbdunkel, das sie fast den Blicken entzieht. So bildet die Küche einen ständig präsenten Hintergrund, eine lebendige Kulisse im Stück, das am Tisch des Gastes gespielt wird. Das macht klar, wie sehr es Gauthier geniesst, die in seinem Restaurant verbrachten Augenblicke zu inszenieren.
Diese Vorgangsweise findet sich auch bei jenen Köchen, die im Moment die internationale Avantgarde bilden. Das Noma von René Redzepi in Kopenhagen und das Faviken von Magnus Nilsson in Schweden sind ebenfalls Erlebnisrestaurants, die von allen sinnlosen Konventionen befreit wurden, um dem Gast einen Moment intensiven Geniessens bieten zu können. Diesen jungen, unbelasteten Chefköchen ist es zu verdanken, dass die gastronomischen Restaurants in den vergangenen Jahren einen neuen Aufschwung erleben konnten. Der glitzernde Luxus hat nach und nach dem Sinnlichen Platz gemacht. Küchenchef Alain Ducasse spricht gerne von „Ingredienzen, die Gefühle transportieren“, um sie von Utensilien oder Produkten zu unterscheiden: Von Nahrungsmitteln, die bloss der Zierde dienen. Gauthier hat ebenfalls diese Spur eingeschlagen: Ein Messer mit grobem Holzgriff, handgeschnitzt, ist besser als eines aus poliertem Silber, das den Normen entspricht. Die glasierten Teller, die er verwendet, sind in der japanischen Technik des Raku hergestellt und von Sprüngen und Rissen durchzogen. Es ist diese Vielfalt, um die es ihm geht. Und damit auch um den Gegenpol zu den grossen klassischen Tafeln, die ohne die erhabene Opulenz des Limoger Porzellans nicht auskommen.
Gauthier mag den Zufall, das Unerwartete, während sich die klassische Gastronomie bemüht, jeden Tag ähnliche Gesten zu reproduzieren. Damit vertritt er jene neue globale Küche, bei der Erfahrung, Staunen und Empfindsamkeit im Mittelpunkt stehen. Sein Restaurant entspricht perfekt den Erwartungen seiner Kunden, die Akteure in starken, unerwarteten Momenten sein wollen, und nicht Zuschauer eines bald wieder obsoleten Luxusballetts.
Alexandre Gauthier macht es seinen Besuchern ein bisschen leichter, sich Zeit nehmen, um jenes berühmte Nichts zu entdecken, aus dem alles entsteht. Bei ihm kann man durchatmen. In der Natur. Ausserhalb jeder Zeit. Und mit allen Sinnen. Das dürfte wohl die Definition von Genuss schlechthin sein.