Anthropotechnik
Die von Philippe Geslin in den 1990er Jahren weiter entwickelte sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung der Anthropotechnik widmet sich Problemlösungen für die Übertragung von Techniken in Bereiche, für die sie ursprünglich nicht bestimmt waren.
Das Kochen der Sole benötigt Holz als Brennmaterial, Guinea, Westafrika, 1998 © Xavier Desmier
Es gibt zahllose Fehlversuche beim Technologietransfer, auch in der Lebensmittelproduktion. Dabei handelt es sich meist um die Implementierung technischer Systeme in neue soziale oder kulturelle Umfelder, ohne deren Bedingungen zu berücksichtigen. Anthropotechnik erbringt, basierend auf sozialtechnischen Methoden, sowohl Analysen wie Konzeptvorschläge1.
Ein Abenteurer, der Kulturen verbindet
Der französische Ethnologe Philippe Geslin wurde nach dem Studium an Sorbonne und École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris in sozialer Anthropologie und Ethnologie promoviert. Ab 1990 wendete er Anthropotechnik auf Forschungs- und Einsatzgebiete in Afrika, Asien, Lateinamerika und Grönland an. Nach seiner Definition „konzentriert sich diese Disziplin auf das Studium und die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in allen Erdregionen. Sie dient als Orientierung für Akteure, die Konzepte entwickeln, indem sie den ‚Faktor Mensch‘ sowie seine sozialen, kulturellen und umweltspezifischen Besonderheiten in den Mittelpunkt stellt. Sie setzt sich folglich für eine Technikkonzeption ein, die den Menschen, seine Art zu denken und im besonderen Zusammenhang zu handeln, respektiert2.“
Sein erster anthropotechnischer Einsatz führte Geslin von 1993 bis 1997 an die Küste Guineas, zur Ethnie der Susu, die traditionell zur Salzgewinnung Sole in mit Mangrovenholz befeuerten Bottichen erhitzen. Dazu benötigen sie grosse Holzmengen, weshalb ein Programm gegen die Abholzung von Mangroven vorsieht, eine alternative Salzgewinnungs-Methode nach dem Beispiel der Salzgärten der bretonischen Halbinsel Guérande einzuführen. Der Ethnologe begleitete die Analyse-, Planungs- und Testphase dieses Technologietransfers zwischen den Salzbauern von Guérande und den Susu.
Interview
Philippe Geslin, wie sind Sie zur Anthropotechnik gekommen?
„Da ich aus dem Fachgebiet der technischen Kultur und der Anthropologie der Technik kam, habe ich mich der Anthropotechnik zugewandt, da meine ursprünglichen Disziplinen keine Methode für praktische Einsätze entwickeln konnten oder wollten. Als Technik-Anthropologe habe ich mich für meine Rolle im Planungsprozess oder beim Technologietransfer interessiert. Anthropotechnik widmet sich als Wissenschaft den technischen und produktbezogenen Planungsprozessen. Sie zählt zur angewandten Forschung, die die Denk- und Handlungsweisen des Einzelnen in den Planungsprozess einbezieht. Jetzt bin ich an einer Ingenieursschule (Haute École Arc Ingénierie in Neuchâtel, Anm. d. Red.), an der ich diese Disziplin lehre. Ich finde es interessant, junge Leute auszubilden, die eines Tages in Unternehmen arbeiten und Entscheidungen im Bereich des Technologietransfers und der Technologieauswahl treffen.“
Wodurch zeichnet sich der anthropotechnische Ansatz aus?
„Die Anthropotechnik geht von der Praxis aus, der Ansatz ist langfristig angelegt und aufwändig. In Frankreich wurde sie von Alain Wisner in den 1960er Jahren auf den Weg gebracht3. Er war jedoch nie in der Lage, sie auf reale Projekte anzuwenden. Auf seinen Arbeiten aufbauend haben wir eigene Methoden entwickelt, die in den Transformationsprozess integriert werden können, und die wir seit 25 Jahren vor Ort anwenden. Wir begleiten konkrete Projekte in den verschiedensten Bereichen und sind während des gesamten Prozesses tätig. Ganz allgemein gehen wir von bestehenden Fragen aus. Natürlich sind die Antworten technisch, doch der Mensch steht immer im Mittelpunkt unseres Ansatzes. Es geht darum, vorliegende Anforderungen im Kontext zu sehen; dazu müssen wir die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen sowie die Wirkungen technischer Entscheidungen auf die Lebensbedingungen bedenken.“
Welche Anwendung der Anthropotechnik ist im Nahrungsmittelbereich denkbar?
„Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Wir können an den Verarbeitungsprozessen der Nahrungsmittel arbeiten oder die Zubereitung von Lebensmitteln zu neuen Produkten analysieren. Wir könnten sehen, wie besagte Prozesse möglicherweise künftige technische Entscheidungen in der Nahrungsmittelzubereitung beeinflussen: Ist die Nutzung eines Solarofens für diese oder jene Gesellschaft sinnvoll oder nicht, welche Auswirkungen hat grobes oder feines Schneiden auf die Konzeption eines Küchenroboters für den Export usw. Man kann sich auch Gedanken um die Sinneswahrnehmung machen. Ein Mitglied unseres Teams, Carole Baudin, ist übrigens auf Anthropologie der Sensorik und deren mögliche Anwendungen bei der Wahl von Materialien, Texturen usw. spezialisiert. Für die Susu beispielsweise schmeckte das sonnengetrocknete Salz salziger als vor Ort produziertes Salz. Dies war ein wesentlicher Grund für die Auswahl der neuen Produktionsmethode. Wir befassen uns intensiv mit den Vorstellungen, die im Verlauf technischer Entscheidungen wirksam werden. Bleiben wir bei den Susu. Ihre Gesellschaft kennt zwei Salzarten: das männliche Salz und das weibliche Salz. Ersteres ist ein Medikament, hergestellt aus heisser Sole. Es erlaubt die Produktion des anderen, für den täglichen Bedarf bestimmten Salzes4. Indem sie sich für das Verfahren des sonnengetrockneten Salzes und gegen das Sole-Kochen entschied, gab die Bevölkerung willentlich die Herstellung des männlichen Salzes und damit faktisch einen Wesenszug ihrer traditionellen Salzgewinnung auf. In allen Gesellschaften rund um den Globus prägt die ‚Kultur‘ den Geschmacks-, Tast- und Sehsinn.“
Sie wenden den anthropotechnischen Ansatz überall auf der Welt an. Wie ging das mit den Salzproduzenten in Guinea konkret vor sich?
„Das Projekt in Guinea war etwas Besonderes, da es nicht von der Bevölkerung vor Ort, sondern den bretonischen Salzbauern aus Guérande ausging. Sie wollten ihre Gewinnungstechnik – die Salzgärten – nach Guinea transferieren, um das Abholzen der Mangrovenwälder dort zu bremsen. Gleichzeitig sollte sichergestellt werden, dass diese Technologie auch wirklich den Bedürfnissen der Susu als lokalen Produzenten gerecht wird.
Ich blieb vierzehn Monate vor Ort. Natürlich stimmt, dass die traditionelle Salzgewinnung Holz verbraucht, doch habe ich schnell bemerkt, dass die Produzenten ein effizientes Bewirtschaftungsverfahren für das Mangrovenholz anwandten. Sie wussten, wie sie die Ressource Mangrovenholz zu nutzen hatten. Denn dort gab es keine Abholzung. Die Probleme lagen woanders. Zu der Zeit hatten die Susu andere Wünsche : Sie wollten vor allem ihre Arbeitsbedingungen verbessern, ihre Aufgaben weniger beschwerlich machen – die Salzproduktion war hartes Brot (hohe Temperaturen vor den Salzöfen, Mücken in den Mangrovenwäldern, beschwerlicher Wasserzugang, isoliertes Leben in den Camps, viermonatiges Schulversäumnis der Kinder usw.) – und Techniken einführen, die gleichzeitig ihre Reisfelder sicherten, um Reisanbau zuverlässig zu ermöglichen.
Es zeigte sich zudem, dass der örtliche Lehm technisch von anderer Beschaffenheit war als der in Guérande: nicht wasserbeständig genug, und die Salzgärten lieferten für den Verzehr ungeeignetes Salz. Die Einführung von Salzgärten stiess auf ein komplexes System der Bodenverteilung, weshalb nicht alle Produzenten von dieser Produktionsart hätten profitieren können. Mehrere Salzbauern besassen kein eigenes Land, sondern nur zeitlich begrenztes Nutzungsrecht. Sie konnten nicht sicher sein, im Jahr darauf noch auf ihren Flächen zu bleiben. Das alles ermutigte sie nicht, in die aufwändige Einrichtung der Salzgärten zu investieren.
Die Realität vor Ort war demnach weit entfernt von den Verhältnissen der Salzbauern in Guérande, die bei den Susu Salzgärten nach ihrem Vorbild errichten wollten. Deshalb konnte dies technisch, wirtschaftlich und sozial nicht funktionieren. Meine Rolle als Ethnologe bestand darin, die Erwartungen der Susu-Produzenten zu vertreten sowie die Transfergrenzen des Salzgärten-Systems von Guérande aufzuzeigen, die sich bei der ‚Konfrontation‘ mit der Wirklichkeit vor Ort ergaben. Danach starteten wir einen gemeinsamen Entwicklungs-Prozess mit den zukünftigen Nutzern.“
Haben Sie als Ethnologe auch die Bedeutung von Vorstellungsbildern untersucht?
„Absolut. Man muss sich fragen: „Was bedeutet das Salz für die Susu?“ Traditionell stellen sie Salz her, indem sie salzhaltige Erde mit Meerwasser zu Sole vermischen. Diese wird anschliessend in Bottichen bis zur Salzkristallbildung erhitzt. Die Susu erzählten mir, dass das von den Salzbauern von Guérande produzierte Salz für sie kein Salz sei. Es fehlte das, was man in der Ethnologie einen Katalysator nennt, d.h. in ihren Augen fehlte die salzhaltige Erde, die es dem Susu erst ermöglicht, Salz herzustellen. Man musste also eine Technik ersinnen, die ein mit ihrer Vorstellungswelt im Einklang stehendes Lebensmittel hervorbringt. Dies war einer der Gründe, weshalb wir das Vorbild der Salzgärten von Guérande aufgegeben und uns einer Gewinnungsmethode auf Plastikplanen mit einer Soleproduktion, die Salzwasser und salzhaltige Erde verbindet, zugewandt haben. Dabei war wichtig, dass das Verfahren zur Vorstellungswelt der Susu passte. Wir stellten fest, dass – unabhängig von Technik oder Erzeugnissen – ein Produkt nicht funktionieren wird, wenn es nicht mit der vorhandenen Vorstellungswelt übereinstimmt. Oft scheitert der Technologietransfer – auch im Lebensmittelbereich – aus symbolischen oder gedanklichen Gründen.“
Die Herstellung von Salz auf Planen war ein Erfolg?
„Absolut! Diese Lösung war für die Bevölkerung viel besser als die Salzgärten nach dem Vorbild von Guérande. Plastikplanen sind bekannt, billig, werden vor allem während der Regenzeit benutzt, und haben sich schnell amortisiert. Dieses Hilfsmittel stellt zudem kein Problem hinsichtlich des Grundeigentums dar, da es beweglich ist, schnell installiert oder notfalls von einem Gelände zum anderen transportiert werden kann. Der Gebrauch der Planen ist einfach: Man schüttet die Sole darauf, und mithilfe von Sonne und Wind kristallisiert das Salz innerhalb weniger Stunden, ohne dass es überwacht werden müsste. Da die Frauen zur Überwachung der Salzbottiche nicht mehr vor den Feuern bleiben mussten, konnten sie sich in der Zwischenzeit um das Räuchern von Fisch kümmern oder diesen auf dem Markt verkaufen – und gleichzeitig Salz herstellen. Dadurch nahm der Wohlstand der Frauen zu. Einige Frauen begannen sogar, Land zu kaufen und Häuser zu bauen, die sie an Privatpersonen aus Coyah vermieten.
Die Männer müssen kein Holz mehr für die Salzproduktion schlagen. Sie bleiben in den kleinen Dörfern und sichern die Reisfelder gegen steigendes Salzwasser ab. Die Reisproduktion stieg beträchtlich und das Dorf Wondewolia, mit dem wir zusammengearbeitet haben, wuchs von hundert 1991 auf heute mehr als 500 Einwohner!
Die neue Technik brachte auch den Kindern einen Vorteil. Mit der alten Gewinnungsmethode zog die ganze Familie vier, fünf Monate in die Camps zur Salzherstellung. Jetzt erfordert die Produktion weniger Arbeitskraft, allein die Frauen gehen noch zu den Produktionsstätten. Die Kinder bleiben mit den Vätern im Dorf. Im Dorf bleiben heisst, in die Schule zu gehen. Die Kinder besuchen die Schule jetzt länger als vorher. Diese kleine Plastikplane hatte im Endeffekt absolut unglaubliche Auswirkungen!“