Die irre Lust auf Fleisch
Die Welt produziert in einem Jahr mehr als 300 Millionen Tonnen Schnitzel, Steaks und Hühnerbrüstchen. Doch der Speiseplan ist extrem unterschiedlich: Die reichen Industrienationen essen sehr viel, die Ärmsten überhaupt kein Fleisch.
Hühner Schlachtung, Seara, Brasilien, 2013 © George Steinmetz
Der Fleischhunger der Welt scheint keine Grenzen zu kennen. Die Produktion von tierischem Eiweiss gehört zu den dynamischsten Wachstumssektoren der gesamten Nahrungsmittelerzeugung. Mit fast schon naturgesetzlicher Konstanz ist der globale Fleischberg in der letzten Dekade um durchschnittlich zwei Prozent im Jahr gewachsen. Alle Trendbarometer zeigen weiter in eine Richtung: mehr, mehr, mehr. Bis zur Jahrhundertmitte könnten Produktion und Verbrauch(1) von Fleisch gegenüber heute nochmal um 30 bis 40 Prozent zulegen. Die weltweite Fleischproduktion hat schon jetzt nach Zahlen der Welternährungsorganisation FAO – Stand 2013 – die kaum mehr vorstellbare Menge von 308,5 Millionen Tonnen erreicht. Blickt man 40 Jahre zurück, stellt man fest, dass sich der Fleischkonsum der Welt seit 1971 mehr als verdreifacht hat.
Gefährliche Tierseuchen, Skandale und regelmässige Panikattacken der Verbraucher in einzelnen Ländern konnten die weltweite Lust auf Fleisch ebenso wenig stoppen wie die Diskussion um schwindende Wasser- und Landressourcen oder die alarmierenden Klimaemissionen der Viehwirtschaft. Während Klimawissenschaftler, Tierschützer und Gesundheitsratgeber unisono vegetarische Tage fordern und Gruselreporte zur Massentierhaltung (Jonathan S. Foer: Tiere essen) zum Bestseller avancieren, scheint der Fleischmarkt unbeeindruckt von allen Zwischenrufen weiter zu boomen. Doch zumindest in einigen Industrienationen hat sich der Wind ein wenig gedreht: In den USA geht der Fleischverbrauch seit einer Dekade spürbar zurück, und auch Deutschland verzeichnet jetzt schon das dritte Jahr hintereinander ein Minus.
«Non-veg» hat sich zu einem Statussymbol in Indiens blühenden Städten entwickelt
Der globale Trend zeigt eine Zweiteilung: In den meisten Industrieländern stagniert der Fleischverbrauch auf einem extrem hohen Niveau oder geht sogar leicht zurück. Gleichzeitig verzeichnen die Schwellen- und Entwicklungsländer in den letzten Jahren starke Zunahmen, teilweise sogar mit zweistelligen Wachstumsraten. Die Aufholjagd der ärmeren gegenüber den reichen Ländern lässt sich in Asien, Afrika und Südamerika gerade beim Fleischkonsum beispielhaft ablesen. Am Speiseplan ist leicht zu erkennen, wo der Wohlstand wächst und sich neue Mittelschichten herausbilden. Fleisch gilt nicht nur als Kraftspender und wertvoller Proteinlieferant, sondern als Symbol für Aufstieg und Luxus.
Weltweit wichtigster Fleischlieferant ist weiterhin das Schwein. Obwohl die muslimische und jüdische Welt Schweinefleisch als unrein ablehnt und damit eine grosse Konsumentengruppe komplett ausfällt, füllt das Borstenvieh fast 40 Prozent des globalen Fleischtellers. Weltweit lag die Produktion im Jahr 2013 bei 114,3 Millionen Tonnen. Fast die Hälfte des Schweinefleischs wird heute in China produziert (55,7 Millionen Tonnen). Der Pro-Kopf-Verbrauch der Chinesen hat im Vorjahr beim Schweinefleisch einen neuen Rekordwert von stattlichen 31,3 Kilogramm erreicht und damit erstmals den EU-Verbrauch von 30,86 Kilogramm überholt.
Den grössten Zuwachs verzeichnet aber Geflügel, vor allem Huhn. Es ist zugleich das billigste aller Fleischangebote. Seit 1960 hat sich die Welt-Geflügelproduktion mehr als verzehnfacht, die Schweinefleischproduktion «nur» verfünffacht. Die Geflügelproduktion für den globalen Fleischtopf liegt jetzt bei 107 Millionen Tonnen. Rindfleisch bleibt dagegen das Protein der Reichen. Es ist am teuersten und wird deshalb vor allem in den alten Industrieländern verzehrt. Ausnahme – mit einem extremen Pro-Kopf-Verbrauch von jeweils 41 Kilogramm – sind die beiden grossen Rindfleisch-Erzeuger Argentinien und Uruguay, wo gewaltige Mengen Rindfleisch meist in Form gegrillter Steaks gegessen werden.
Musiker und Entertainer wie Jay Z und Beyonce machen Vegan-Experimente
Aus dem weltweiten Fleischtopf holen sich vor allem die Schwellenländer immer grössere Brocken. Allen voran marschiert China, wo der Fleischverzehr im Jahr 2013 pro Kopf auf 48,7 Kilogramm angestiegen ist. Vor zehn Jahren (2004) lag er noch bei 39,1 Kilogramm. Auch in China decken inzwischen amerikanische Fast-Food-Ketten den Tisch. Es gehört zum neuen Lebensstil, üppige Fleischportionen zu essen. China steht aber nicht allein. Wie die FAO bilanziert, hat sich in den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas der Fleischverbrauch in den letzten 50 Jahren generell mehr als verdreifacht. Dennoch ist er im Vergleich zu den reichen Industrieländern noch relativ bescheiden geblieben. Afrika verzeichnet einen durchschnittlichen Pro-Kopf-Fleischverzehr von 11,7 Kilogramm. Doch in den ärmsten Ländern des Kontinents liegt er weit darunter. So essen die Äthiopier 4,9 Kilogramm Fleisch im Jahr, die Sudanesen 5,9 Kilogramm. Der Fleischkonsum in Indien und Bangladesch erreicht nochmals deutlich niedrigere Werte mit 3,5 bzw. 3,1 Kilogramm. Beides sind Länder mit einer vegetarischen Tradition, aber auch mit grosser Armut. Viele Menschen essen kein Fleisch, weil sie es sich einfach nicht leisten können.
Um eine Unterernährung und Unterversorgung mit lebenswichtigen Nahrungsbestandteilen zu verhindern, fordert die FAO für jeden Erdenbürger eine Fleischportion von mindestens 20 Gramm am Tag, das entspricht 7,3 Kilogramm im Jahr.
Nicht nur die Konsummuster, auch die Produktion des Fleischs verändert sich. Der grösste Verarbeiter von tierischem Protein weltweit kommt nicht mehr aus dem reichen Norden, sondern aus einem Schwellenland: Die 125.000 Beschäftigten des brasilianischen JBS-Konzerns schlachten in 134 Fabriken, die auf zehn Länder weltweit verteilt sind, täglich 90.000 Rinder und acht Millionen Hühner. Jahresumsatz: 23,5 Milliarden Euro.
Grösster Abnehmer und grösster Fleischvertilger überhaupt sind – abgesehen vom Kleinstaat Luxemburg – noch immer mit deutlichem Abstand die USA mit einem Verzehr von 91,1 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Der genauere Blick in die Statistik zeigt, dass US-Männer sehr viel mehr Fleisch essen als Frauen – ähnlich wie in Europa. Allerdings erreicht ausgerechnet in den USA, einem Land, in dem das Riesensteak als Menschenrecht gilt, die Veggie-Welle einen neuen Scheitelpunkt. Musiker und Entertainer wie Jay Z und Beyonce machen ein dreiwöchiges Vegan-Experiment, und auch der einflussreiche Pastor Rick Warren ruft seine Landsleute zum Essen von Pflanzen auf. Nach Ex-Präsident Bill Clinton hat nun auch dessen ehemaliger Vizepräsident Al Gore seine Ernährung umgestellt und dem Truthahn-Braten erst mal Lebewohl gesagt. Und die populäre Talkmasterin Oprah Winfrey absolviert gemeinsam mit 378 Angestellten ihrer Produktionsfirma eine vegane Woche. Auch in Deutschland klopfen Vegetarier und Veganer selbstbewusst den Takt, während die Fleischesser Besserung geloben, ihre Portionen kürzen und ihr schlechtes Gewissen pflegen.
Das meiste Fleisch kaufen sie nach wie vor zu Niedrigpreisen im Supermarkt. Hauptsache billig. Biofleisch bildet nur eine winzige Nische. Beim Schweinefleisch, dem wichtigsten Fleischmarkt in Deutschland, kommt Bio-Ware noch nicht einmal auf ein Prozent der verkauften Menge.