Erinnerungen an Madeleine
Der französische Dichter Marcel Proust ist auch ein Erotiker der Gaumenfreuden. Hoch empfänglich und sensibel veranlagt, hat er dafür eine ebenso sinnliche wie poetische Sprache gefunden. Verblüffend ist sein Entzücken über den Spargel, dessen «irisierende Abstufungen» und «himmlische Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten».*
In eine höhere Dimension der Kulinarik weiht uns die vielleicht berühmteste Szene in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein. Ein wenig bedrückt ob der Aussicht auf ein trübes Morgen führt der Erzähler «einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten Stück Madeleine an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glückgefühl ...»
Unvermittelt blüht ein Universum auf: die Erinnerung an die Tage der Kindheit. Damals überbrachte der kleine Erzähler jeweils am Sonntag seiner Tante Leonie den Morgengruss und erhielt dafür ein Madeleine-Gebäck angeboten, das in Lindenblütentee getaucht war. Mit dem zarten Geschmack auf der Zunge «stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse Tee». *
Riechen und Schmecken führen direkt ins Stammhirn, deshalb gelten sie als die ältesten und auch verlässlichsten Sinne. Ihre Erinnerung trügt seltener als die der Augen und Ohren. Marcel Proust demonstriert es. Sein genialer Kniff besteht darin, dass er nicht nur die alten Zeiten, sondern auch die Optik des Kindes erinnert, wodurch die Welt grösser und weiter wird. Und das alles wegen eines deliziösen Gebäcks.