Bary mleczne
Die polnischen Milchbars, Relikte aus kommunistischer Zeit, werden von Geringverdienern wie vom wohlhabenden Banker besucht: sie liegen im Trend.
Beim Eingang zeigt eine Rillentafel das Tagesangebot mit den – immer moderaten – Preisen. ©Diana Danko/Mangophotography
Winzige Plastikblumen schmücken Dutzende quadratischer Tische. Die Stühle sind unbequem, aber praktisch. Am Eingang gibt ein Schild in Zierschrift Auskunft über die Tageskarte. Durch eine Wandöffnung hinter dem Tresen kann man in die Küche blicken, wo Köchinnen seit dem frühen Morgen zugange sind: Sie bereiten zupy (Tagessuppen), kasza gryczana (Buchweizenbrei) und bigos (Eintopf mit Fleisch, Wurst und Sauerkraut) zu, ohne das Rührei für die ersten Gäste aus den Augen zu verlieren. Die Stimme der Kellnerin schallt durch den Saal: „Jajecznica!“ (Wer hat Rührei bestellt?).
Wir sind in einer bar mleczny, deutsch ‚Milchbar‘. Diese typisch polnische Einrichtung verbindet traditionelle Küche mit schnellem Service. Familien, Studenten mit kleinem Geldbeutel oder wohlhabende Gäste - alle essen hier zu konkurrenzlos günstigen Preisen. Ein Kaffee kostet 2,10 Złoty1, Karottensalat 1,90 Złoty, ein Teller pierogi ruskie (Kartoffel-Ravioli mit Quark) 6,25 Złoty. Alles ist hausgemacht, mit frischen Zutaten und nach Grossmutters Rezepten. Für etwa 8 Złoty bekommt man eine komplette Mahlzeit (Vorspeise und Hauptgericht), die im Restaurant das Dreifache kostet.
Als Restaurant-Kantinen werden Milchbars staatlich subventioniert und können deshalb eine grosse Auswahl an sättigenden Speisen zu minimalen Preisen anbieten. Für prekär lebende Bewohner der Ballungsgebiete sind sie unentbehrlich: Rentner mit magerer Altersrente, Arbeitslose, selbst Obdachlose kommen hierher, um eine warme Mahlzeit zu bekommen.
Die wechselvolle Geschichte der Milchbars
„Deshalb gibt es die Bars ja auch noch“, sagt Marzenna2, Kassiererin der Krakauer Milchbar Żaczek. Denn beinahe wären sie für immer verschwunden. Im kollektiven Gedächtnis sind die bary mleczne untrennbar mit dem kommunistischen Polen verbunden. Hier ass jeder, denn es gab nichts anderes. Nach dem Sturz des Regimes zog von Westen her ein neuer Wind durch die polnischen Strassen, der nach Döner, Pommes Frites und Hamburgern roch. Die Verbraucher, hungrig nach Neuem, stürzten sich auf das neue Angebot, der Milchbarbesuch brach drastisch ein.
Deren Betreiber brauchten viel Mut, um durchzuhalten. Zumal ihnen die Behörden das Leben nicht eben einfach machten: Mehrmals plante der Staat die Subventionsstreichung, um sich im letzten Moment eines Besseren zu besinnen. Das immer wieder prophezeite Bar-Sterben weckte den Zorn der Bevölkerung, die ihre Meinung in Petitionen und Demonstrationen vortrug. 2015 machten neue Vorschriften den Milchbar-Köchen das Leben schwer: Nunmehr waren ihnen Gewürze bei der Speise-Zubereitung verboten. Nur Wasser und Salz waren erlaubt. Die Inhaber, unterstützt von ihren Gästen, setzten sich schliesslich durch und erhielten die Erlaubnis, Majoran für die Suppe und Zimt für die Desserts verwenden zu dürfen.
Das Comeback
Heute ist in die Milchbar zu gehen ‘in’. Mit ihren ‚hausgemachten‘ Speisen und mit schnellem Service (‚Reingehen-Essen-Rausgehen‘) locken sie auch wohlhabende Kunden an, die in entspannter Atmosphäre schnell essen möchten. Freunde der traditionellen polnischen Küche kommen ebenso wie Menschen auf der Suche nach einer ‘gesünderen’ Alternative zum Fastfood. Nach dem Ende des Kommunismus geborene Studenten treibt die Neugierde, denn in diesen Lokalen lässt sich erleben, ‚wie es im Kommunismus zuging‘. Traditionell setzt man sich neben einen Unbekannten; so sind die Milchbars als egalitäre Inseln ein Ort, an dem der Student seine Mahlzeit Seite an Seite mit einer Rentnerin einnimmt, und wo der Businessman den Tisch mit einem Obdachlosen teilt.