Viehzucht, Landwirtschaft und regionale/nationale Identität
Die Schweiz hat sich eine nationale Identität konstruiert, in der Schäfer und Berghirten eine zentrale Rolle spielen…
Die Schweiz hat sich eine nationale Identität konstruiert, in der Schäfer und Berghirten eine zentrale Rolle spielen. Ländlichkeit, einfaches Leben und die Berge prägen ihre Symbole, Mythen und politischen Ideale. Denken wir nur an Heidi, Wilhelm Tell, aber auch ans Bergwandern oder an die Souvenirs in den Touristenläden… Ein bäuerliches Selbstverständnis und seine Repräsentation bestimmen die Schweizer Gesellschaft bis hin zum Essen.
Tatsächlich ist Viehzucht auch heute noch ein wichtiger Teil der Schweizer Landwirtschaft ‒ besonders in den Bergen. Die Schweiz wird vor allem als Land der Weiden dargestellt. Es braucht jedoch Viehzucht, um Gras in essbare Nahrung zu verwandeln. Das Image der Schweizer Viehwirtschaft wird daher allgemein mit den Bergen assoziiert, mit Kühen, die in der Alpenlandschaft grasen. Historisch gesehen spiegelt sich die festgelegte Rolle der Bergregionen für die Viehwirtschaft, besonders der Milchwirtschaft, in den weltweit bekannten Emmentaler und Greyerzer Käsespezialitäten wider.
Die ökonomische und landwirtschaftliche Realität hinterliessen auch ihre Spuren in der Schweizer Esskultur, die in einer rustikalen Gastronomie wurzelt. Denken wir nur an typische Gerichte wie Fondue, Raclette oder Bündnerfleisch. Ihre identitätsstiftende Gemeinsamkeit zeigt sich in jeder Region durch lokale Gerichte oder Praktiken, die die Schweizer Geselligkeit prägen. Um nicht nur von Traditionellem zu reden, können wir auch die sommerlichen Grillfeste erwähnen, die Fleisch mit Festlichkeit und Geselligkeit verbinden. In dieser Logik gibt es kaum typische Gerichte auf rein pflanzlicher Basis: Ein „echtes“ Tessiner Risotto wird mit Butter zubereitet…
Was lange Zeit selbstverständlich war: Die Schweiz, das Land der Weiden, Viehzüchter und des Konsums von Tierprodukten, wird heute jedoch zunehmend hinterfragt. Man muss auch zugeben, dass die aktuelle Realität des Fleisch- und Milchsektors mit dem stereotypen Bild der Bergweide wenig zu tun hat. Der grösste Teil des in der Schweiz produzierten Fleisches stammt von in der Ebene gehaltenen und mit Getreide und Ölsaaten gefütterten Tieren. Das ist für Schweine und Hühner nachvollziehbar, aber Rinder fressen neben Gras auch Mais und importierte Pflanzenproteine. Historisch gesehen wird Fleisch erst seit der industrialisierten und intensivierten Tierhaltung im 20. Jh. täglich in grossen Mengen produziert und konsumiert; sein Preis ist dadurch für (fast) jeden erschwinglich geworden. Ob in der Schweiz oder im Ausland via Importen: Am Ende ist es fruchtbares Land, das für die Fütterung von Nutztieren beansprucht wird, obwohl es für die Produktion von direkt vom Menschen konsumierbaren Nahrungsmitteln mit geringeren Verlusten in der Produktionskette genutzt werden könnte.
Auch auf der Verbraucherseite ändern sich die Dinge. Die Zahlen des nationalen Fleischkonsums sind seit einigen Jahren rückläufig, während das vegetarische Angebot zunimmt. Kulinarische Praktiken haben sich über den ganzen Globus verbreitet, und die indische und asiatische Küche bieten Inspiration für schmackhafte fleischlose Gerichte. Immer mehr Geschäfte und sogar Supermärkte bieten ein wachsendes Sortiment an veganen Produkten…
Das Verhältnis zu Fleisch- und Milchprodukten wandelt sich in der Schweiz, aber auch anderswo. Für eine Gesellschaft ist es nicht einfach, Tradition und neue Konsummuster in Einklang zu bringen. Aufschlussreich sind zum Beispiel die Debatten um falschen Käse aus Cashewnüssen. Einerseits ziehen die Hersteller für ihre Produkte Nutzen aus dem allseits bekannten Image des „echten“ Käses, distanzieren sich aber gleichzeitig von der Ausbeutung von Tieren. Andererseits sind die sozialen Netzwerke voller Kritik an der Inkonsequenz, „echten“ Käse imitieren zu wollen, und verteidigen die Schweizer Züchter.
Daraus lässt sich schliessen, dass das Anprangern von Tierhaltung und Konsum tierischer Produkte viel mehr verändert als nur unsere Konsumgewohnheiten. Unsere Nahrung hat tiefe, aber auch entwicklungsfähige Wurzeln in der Konstruktion von Identität. Sie zeigt aber auch, was man in der Schweiz produzieren kann... Diese Klischees hinter sich zu lassen, geht nicht von alleine!
Wir danken Zoé Lüthi (Unterstützung bei Recherche und Dokumentation).
Deutsch übersetzt nach dem französischen Original.
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