Orthorexie – Essen unter Zwang
Wenn der Wunsch zu gesunder und natürlicher Ernährung zur Sucht wird: Wie beschreiben Orthorektiker ihr Verhältnis zu Nahrungsmitteln?
Blaise Pascal sagt, wer aus dem Menschen einen Engel machen will, macht ein Tier aus ihm. Das trifft auch auf orthorexia nervosa, eine besondere Form der Lebensmittel-Abhängigkeit zu... ©Shutterstock/studiovin
Der 1997 vom amerikanischen Arzt Steven Bratman1 geprägte Begriff Orthorexia nervosa leitet sich her von Anorexia nervosa; er verbindet griechisch ortho (gerade, richtig) und orexis (Verlangen – nach Nahrung). Er beschreibt eine manische Fixierung auf ‘gesunde’ Ernährung2. Das gesamte Dasein des fanatischen Orthorektikers kreist um Ernährungsfragen, in die er sich verbohrt. Abweichen vom strengen Glauben grenzte an Häresie. Nur noch die Lebensmittelqualität interessiert ihn, seine Beziehung zum Essen ist mit der Strenge einer Ordensregel auf ein ‘gesundes’ Leben fokussiert3, so dass die ursprüngliche Tugend gesunder Ernährung, Achtung vor der Natur und des eigenen Organismus sich in ein Laster, eine Abhängigkeit verwandelt. Ein derartig exzessives Abgleiten zeitigt widersprüchliche Folgen: Obwohl sie auf Gesundheit zielt, kann Orthorexie zur Nahrungseinschränkung führen, die bis zur Lebensgefahr untergräbt, was sie zu bewahren vorgibt.
Diese Essstörung betrifft 1 bis 3% der Bevölkerung, mehrheitlich Frauen. Der Begriff Orthorexie erscheint trotz seines Erfolgs nicht im Standardwerk der psychischen Störungen, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), jedoch wird die Aufnahme erwogen4. Bis dahin gilt, dass dieses Syndrom „Angststörungen beschreibt, die einerseits eine Phobie vor gefährlichen Lebensmitteln und andererseits ein zwanghaftes Bedürfnis nach Schutzmechanismen umfassen“5.
Um die psychische Struktur der Orthorexie zu verstehen, hilft die Sprachanalyse. Ernährung ist symbolisch aufgeladen; Begriffe oder Bilder, die Essen oder den Ausschluss bestimmter Lebensmittel beschreiben, verraten viel über die Lebenswelt. Deshalb kann man Orthorexie auch eine Störung der Vorstellungswelt nennen: Ein nach ‘gesunder’ Nahrung Süchtiger leidet an verzerrter Realitätswahrnehmung – er überfrachtet Ernährung mit unangemessener Bedeutung und Störbildern. Beim Betroffenen trübt sich das Bewusstsein, sobald er sich für eine Mehlsorte, die Grösse des Gemüses, die Dauer der Dampfgarung oder den grammgenau berechneten Tagesbedarf an Lebensmitteln entscheiden soll. Wenn deren Wiegen zum feierlich-lebenswichtigen Akt wird, ist dies ein Störungssymptom, das sich in der Sprechweise über Ernährung niederschlägt. Wie auch Kelly6 zum Thema Fasten betont, kann das Wort eines Diät-Guru bereits Wirkung haben: „[…] wenn Meinungsführer Fasten hochjubeln, dann bewirkt das, denke ich, allein von der Rhetorik her, dass die Leute glauben, Essen sei gefährlich“7.
Götzen und Ungeister ‘gesunder’ Ernährung
Wenn wir das hören, denken wir zuerst an Religion. Als Glied einer konsumorientierten, säkularisierten Gesellschaft sucht der Orthorektiker auf seinem Teller das Heilige, das aus seinem Alltag verschwunden ist. Es finden sich zahlreiche Berichte mit religiösem Vokabular, die Entfremdung beschreiben. Etwa Liz, die glaubt, ihr Mann, der in seiner Ernährung primär eine Art häuslichen Kult sieht, leide an Orthorexie; oder Dave, der sich vorstellt, dass Gott jederzeit auf ihn zeigen und zum Tode verurteilen kann − eine Bedrohung, vor der allein ‘gesunde’ Ernährung schützt. Ruth gesteht, dass ihr Exmann nach einem höheren Ernährungsgesetz lebte, das jeden, der sich nicht unterwarf, mit göttlichem Zorn und mit Krebs bedrohte8.
Die Sprache der Orthorektiker erweist einen Realitätsverlust, der in der Zubereitung einer Mahlzeit eine gebetsähnliche spirituelle Handlung sieht. Die ehemalige Orthorektikerin Emily Hope Avent bestätigt das und unterstreicht den Suchtcharakter solcher Haltung: Nahrung ist für sie eine wirkmächtige Substanz wie Drogen oder spirituelle Erlebnisse9. Nach religiöser Logik hat das ‘gesunde’ Nahrungsmittel sakralen Charakter; Nichteinhalten der wahren Ernährungsweise kommt dem Glaubensabfall mit Verlust göttlicher Gnade gleich, der Reue und Erlösung erfordert, also die Verdopplung der Bemühungen um ‘gesunde’ Ernährung. Dabei ist Dank für die Nahrung, Segnen der Mahlzeit auch ein spirituelles Element – wobei der Gläubige Gott dafür dankt, überhaupt etwas zu essen zu haben. Der Orthorektiker hingegen erhebt die Nahrung zur Göttlichkeit statt der Gottheit für die Gabe der Nahrung zu danken10. Dieses verwirrte Verhalten sucht keine Verbindung zwischen Mensch und Gott, sondern asketische Disziplin, Selbstkasteiung, Selbstverneinung und Frustrationslust. Auf dem Kreuzzug gegen die Überflussgesellschaft verabschiedet sich der Orthorektiker vom Genuss und betreibt Ernährungs-Puritanismus.
Quasi-religiöses Eiferertum führt bei Fanatikern des ‘richtigen’ Essens oft zu bizarrem Verhalten. Die Ernährungs-Besessenheit nimmt bei manchen die Rolle eines irregeleiteten sokratischen daïmôn ein, eine innere Stimme, die befiehlt, bestimmten Genüssen zu entsagen oder Verbotenes zu meiden. Jordan Younger gesteht nach einer wilden Party ihren Freundinnen, diese nächtlichen Ausschweifungen satt zu haben; auch wenn das zum Teil der Wahrheit entsprach, so sagt sie auch, dass ihre „innere Stimmen hielten sie davon ab, in dieser Nacht Spass zu haben“11. Laura postet auf der Website von Bratman, dass der Glaube, allergisch gegen ein Lebensmittel zu sein, eine „Ernährungs-Obsession“ entwickelt, die eine radikale Selektion fordert und allergene Lebensmittel moralisch in die „bad food“-Kategorie einordnet12.
Binäres Denken
Eine Schwierigkeit bei der Behandlung von Orthorexie ist das binäre Denken der Betroffenen. Es teilt alle Begriffe in Gegensatzpaare wie rein/unrein, erlaubt/verboten, gesund/ungesund ein und dient der moralischen Verurteilung. So berichtet Dana Anon, als Kind von ihren Eltern gepeinigt worden zu sein, die Fleischesser für Mörder hielten und die Welt in Mistkerle und Anhänger der ‘reinen’ Ernährung aufteilten. Sally versucht erst gar nicht, mit ihrer orthorektischen Schwägerin zu diskutieren, die sich für aufgeklärt hält und jede Frage zur Ernährung mit einer heftigen Gegenattacke antwortet. Die 16-jährige Lindsay, jetzt auf dem Weg der Besserung, gibt zu, dass es lange dauerte, den zwanghaften Reflex aufzugeben, alle Lebensmittel in gut und schlecht einzuteilen13.
Zusammengefasst: Anhänger ‘richtigen’ Essens sind unempfänglich für die Lehre des Paracelsus, wonach die Dosis das Gift macht − für den Orthorektiker heisst es: alles oder nichts. Er kann ein Lebensmittel nicht als pharmakon denken − als mögliches Heilmittel wie auch als potenzielles Gift14. Deshalb bestimmt binäres Denken Ernährungs-Hardliner; aus gleichem Grund ebnete Makrobiotik als Ernährungsweise den Weg zu schweren Störungen. Das taoistische Prinzip des Yin und Yang auf die Ernährung anwendend, konstruiert Makrobiotik ein System von Gegensätzen. Sie schafft beeinflussbaren Menschen die Illusion, ihr Leben zu kontrollieren, wenn sie die Regeln ihrer Ernährung detailliert beherrschen. Das strenge Alles oder Nichts ist bei abhängigen Charakteren effizient durch Ordnung und Methodik: In ihrem Buch räumt Jordan Younger ein, auf dem Höhepunkt ihrer Orthorexie oft in einem offensichtlich binären Modus gedacht und gehandelt zu haben. Erschreckt durch die Vorstellung aufweichender Nahrung in ihrem Leib, sah sie nur die Wahl Flüssigkeitsentzug oder Fäulnis. Die Ernährung war eng an die Alternative Niederlage und Erfolg gekoppelt: Verbotenes zu essen als moralische Schande, Diät einzuhalten ein wertvoller Sieg.
Wie der ehemalige Orthorektiker Steven Bratman schreibt, strukturiert das binäre Denken letztlich das gesamte soziale und mentale Leben. Besessen von der Suche nach perfekten Lebensmitteln, stellt der ‘gerechte Esser’ Nahrung und Gesellschaft gegeneinander, macht seinen Frieden mit sich selbst und zieht sich von der Welt zurück, wenn er nicht ganz einfach nach der vollkommenen Stille im eigenen Organismus strebt im wirren Wunsch, befreit von Körperlichkeit nur noch reiner Geist zu sein.
Ein Röntgenblick
Lassen wir den Überblick über die orthorektische Vorstellungswelt mit einem Bereich enden, den man die Ernährungs-Hellseherei nennen könnte. Denn die Verfechter ‘richtigen’ Essens schreiben sich einen Blick ins Tiefgründige zu, der an Hellseherei grenzt. Ihr Auge erkennt alles und durchdringt selbst tiefste Materie. Diese Fähigkeit führen sie auf Erfahrung und Ausdauer, nicht zuletzt in Supermärkten, zurück. So ist der Ex-Veganer Jojo Bizarro zufrieden, nicht mehr zwanghaft Etiketten lesen zu müssen, um zu erfahren, ob Produkte Fisch enthalten. Alicia sieht nicht mehr das Lebensmittel: sie erkennt nur noch Nährstoffe sowie Zucker-, Vitamin- und Mineralgehalt. Und beim kleinsten Fehltritt gerät sie in Panik und prüft alles, was sie isst, mit Adleraugen („[…] I eat like a hawk.“)15. Auch Jordan Younger zerlegte die Lebensmittel in ihre Grundbestandteile, denn bei der Orthorexie geht es nicht mehr um abwechslungsreiches Essen, sondern um den exakten, idealen, für lebensnotwendig gehaltenen Nährstoffanteil. Als sie in der ersten Heilungsphase wagt, ein Lachsfilet zuzubereiten, geniesst sie es zwar in vollen Zügen, doch ist ihr dabei bewusst, dass in diesem Stück fester Nahrung eine Armada an Vitaminen und Mineralien steckt16.
Eingefleischte, harte Orthorektiker berufen sich auf hellseherische Fähigkeiten: Vegetarier spüren im Fleisch Vibrationen und verweigern Speisen aus einer Küche mit den Spuren solcher Vibrationen; andere sind überzeugt, dass allein das Schneiden von Gemüse dessen ätherisches Feld zerstört17. Erneut gibt Bratman aufgrund eigener Erfahrung einen vielsagenden Bericht. Als er eines Abends gemütlich mit Freunden zusammensitzt, stellt er fest, dass seine Aufmerksamkeit von einer... Avocado vor sich auf dem Tisch beansprucht wurde. Er weiss, die Frucht ist reif. Er weiss es nicht nur: Er sieht es. Er stellt sich ihr grünes Fleisch vor, wie es lebenswichtige Energie ausstrahlt. Und er quält sich auch mit der Gewissheit, dass es am nächsten Tag zu spät sein wird − der Moment perfekter Reife würde vorüber sein; also stellt er sich die grünen, glänzenden Zellen vor, die unvermeidlich braun werden, befühlt die Avocado, immer wieder, und ihm wird bewusst, dass er dadurch ihren Verfall beschleunigt und das Bedürfnis nach Kühlung verstärkt. Er hält es nicht mehr aus: steht auf und bringt die Frucht in den Kühlschrank. Seine Gäste deuten dies als Zeichen, dass der Abend zu Ende ist − Minuten später sind sie gegangen. Bratman bleibt zurück − mit seiner Avocado, die weniger gesprächig ist als ein Freund. Traurig18.
So wird der Orthorektiker durch Sinnverwirrung sich selbst zum Verhängnis. Er ist zugleich Erbauer, Wächter und Insasse seines eigenen Gefängnisses. Mit Bedeutung überfrachtet und mit Metaphern unangemessen beladen, muss das Lebensmittel eine Rolle erfüllen, die es nicht tragen kann; es verstrickt den Menschen in Verhaltensstörungen. Um diesem Teufelskreis zu entrinnen, kann das Umfeld, Expertenhilfe oder Korrektur der Vorstellungswelt Erfolge bringen. Abschliessend soll noch einmal Jordan Younger zu Wort kommen; der Orthorexie entkommen, schuf sie die nach Wiedergeburt klingende, schöne Tautologie: „ Essen ist Essen. Es gibt uns Energie, wir sollten es geniessen, aber wir sollten ihm nicht die Oberhand über unser Leben lassen.“19