Der Garten von Hu Fang
Hu Fang, ein Star der chinesischen Kunstszene, pflegt mitten im gigantischen industriellen Sprawl des Pearl River Delta sein kleines Gemüsefeld. Hier, wo Chinas kapitalistisches Experiment begann, will er sein Land von Grund auf neu verstehen. Die Früchte seines Gartens sind Visionen für die Zukunft der chinesischen Gesellschaft: Auswege aus dem Raubtierkapitalismus und der zunehmenden Vergiftung des Landes.
Die Geschichte begann auf der Art Basel, 2012. Zheng Guogu, ein chinesischer Künstler, zeigte bei einer Podiumsdiskussion ein paar Aufnahmen eines Feldes nahe Guangzhou, mitten in der grössten urbanen Streulandschaft Chinas, dort wo Chinas industrielle Explosion begann und heute über 45 Millionen Menschen leben. Schlechteres Land findet man selbst im verseuchten China kaum. Doch auf den Fotos wirkte alles paradiesisch. Ich sah Beete, im Hintergrund Hügel und Seen. Es handle sich um ein neues Projekt, erklärte Zheng, er dürfe nicht viel darüber erzählen. Doch sein Freund Hu Fang lebe jetzt dort.
Ich war irritiert. Hu Fang, einer der führenden Künstler Chinas, ein intellektueller Stern in Chinas Kunstszene, bewirtschaftet jetzt als Bauer einen Boden, der die Qualität einer umgewälzten Müllhalde hat? Eine Symbiose von Kunst und Landwirtschaft in China? Könnte das ein Anzeichen dafür sein, dass sich im heutigen China genau das zu entwickeln beginnt, was im Westen in den 1970er-Jahren unsere Vorstellung von Landwirtschaft umpflügen sollte? Als Agrarphilosophen, Hippies und Bauern die Ökobewegung starteten und damit unsere Sicht auf Land und Staat veränderten? Wiederholt sich diese Geschichte in China? Aber ist China überhaupt mit irgendetwas vergleichbar?
Leise gleitet die schwarze Limousine durch die ehemaligen Fabrikanlagen. Ich bin unterwegs zu Hu Fang. Der Nebel, der in diesen Spätsommernächten oft über Guangzhou liegt, löst sich langsam auf. Morgens um acht ist es noch ruhig hier im Creative District. Chinas neue kreative Klasse wacht gerade erst auf.
«Get rich or die tryin’» hatte gestern Nacht in einer dieser umfunktionierten Hallen ein dicklicher junger Kerl bei der Karaoke-Band bestellt. Jedes Wort konnte er auswendig. Zwei junge Frauen sprangen zu ihm auf die Bühne, Synchrontanz, Gangnam-Style. Das Publikum johlte, Bier floss in dieser schwülwarmen Sonntagnacht im Creative Industry District mit seinen Agenturen, Studios, Bars und Galerien. Oben auf dem Dach Kids mit Champagnerflaschen. Eiswürfel. Fashion. Lange Beine. Gelächter. Wie in der Werbung.
Die Bauern von gestern sind in die grösste urbane Zone der Welt umgesiedelt.
Hu Fang hat die Limousine und die Übernachtung in dieser Gegend für mich arrangiert. Als Grundlagenkurs zum aktuellen Stand der chinesischen Industrialisierung. Lektion zwei folgt heute. Hu Fang und ich haben etwas vor, was sonst nur Chinas Superreichen und obersten Parteikadern vorbehalten bleibt: Essen vom privaten Feld.
Wir rollen durch die Einfahrt. Draussen stehen Wohncontainer. Die Arbeiter haben den Kreativpark wohl gerade erst fertiggestellt. Der Geschäftsbezirk von Guangzhou bietet im Morgennebel eine beachtliche Skyline. 13,5 Millionen Einwohner hat das einstige Guangzhou heute. Im Auto surrt die Klimaanlage. Schweigend fährt der Fahrer Richtung Shenzhen, wo die Staatsführung Anfang der 1980er das grosse Experiment begann.
Die Hügel des alten Fischerstädtchens Shenzhen in Südchina, nahe der freien Handelsmetropole Hongkong, wurden flachgemacht. Anschliessend zündete man die Kapitalismus-Bombe. Shenzhen explodierte von 30.000 auf heute 10,5 Millionen Einwohner: 34.900 Prozent Wachstum in etwas über 30 Jahren. Solche Zahlen liebt die Führung. Das Experiment wurde ausgeweitet: Rund um Shenzhen wurde immer mehr Land eingeebnet oder aufgeschüttet, um Fabriken draufzustellen, abzureissen, zu vergrössern. Die Region wurde die «Werkbank der Welt». Shenzhen und Guangzhou sind heute mit anderen Megacities Teil der «Pearl River Delta Economic Zone», eines wuchernden Stadtgeflechts mit über 45 Millionen Einwohnern. So gross, dass LA bloss ein Fleck darin wäre.
Zwischen Guangzhou und Shenzhen, sagt Hu Fang, liege sein Feld. Wir sind seit einer halben Stunde unterwegs, doch Guangzhou scheint einfach nicht aufzuhören. Ich kann mir nicht vorstellen, wo es hier Felder geben sollen.
Riesige Städte wie Shanghai, Wuhan oder Peking sind heute grösstenteils von ehemaligen Bauern bewohnt. Auf ihren neuen Feldern pflanzten sie zuerst Fabriken, dann Wohnblocks. Um den Boden, die Felder, das Essen kümmern sich jetzt die anderen. Irgendwer.
Die Superreichen Chinas habe ihre eigene biologische Landwirtschaft. Nur ein paar Milliardäre und hohe Parteikader, so wurde bekannt, beziehen ihre Nahrungsmittel von eigenen, geheimen, zweifelsfreien Privatfeldern.
Seit rund zehn Jahren wird die Volksrepublik von Lebensmittelskandalen erschüttert. Es ist das grösste Alltagsproblem der Chinesen: Niemand vertraut mehr dem Essen. In einer Diktatur gibt es keine unabhängigen Kontrollen. Auch nicht für Nahrungsmittel. Zweifel an allem – das ist der unsichtbare Preis, den alle für diesen Aufstieg zahlen müssen. Die Einladung bei Freunden, der Restaurantbesuch, an allem klebt dieser Zweifel: die Furcht vor Giften, Fälschung und Betrug auf dem Teller. Der Zweifel geht an die Substanz. Niemand kann helfen. Kein Gott, kein Staat, nicht die Tipps von Bekannten und nicht die Food-Test-Apps auf den Smartphones. Am Ende entscheidest du ganz allein, was du isst.
Das Auto schneidet weiter durch endlose Stadtflächen. Nach einer Stunde werden die Häuser niedriger, die Strasse schmaler, nur noch vierspurig. Ein Eselkarren. Bäume. Dann biegen wir links ein. Eine Schranke öffnet sich, ein Security-Mann winkt uns müde in ein kleines Dorf. Ein See voller Seerosen, rundherum Rentner, die wie in Zeitlupe spazieren. Das Guwei New Village ist wenige Jahre alt und das Ergebnis einer Zwangsumsiedlung: Bauern hatten Neubauten zu weichen und wurden in Wohnblocks umgesiedelt.
Wir halten vor einem kleinen Reihenhaus. Und Hu Fang. In einem blau-weiss gestreiften französischen Marine-Pullover. Kurzes Haar, schlank. Ein rundes Gesicht mit breiten Wangenknochen.
«Schön, dass du gekommen bist!» Er lächelt. «Es war ein langer Weg, nicht wahr? Komm rein!»
Ich hatte ihn gefragt, ob wir gemeinsam kochen könnten. Die Früchte seines Feldes testen. Ein gemeinsames Experiment. Er hatte gesagt, es sei doch alles erst am Anfang. Aber ja, ich solle kommen.
Hinter der Garagentür versteckt sich ein Kunstraum mit Skulpturen, am hinteren Ende der Wand stehen schlichte Bücherregale. Wir steigen nach oben. Nicht nur hier, sondern im ganzen Haus hängen, stehen und liegen Kunstwerke. Eine E-Gitarre lehnt an der Wand des Gästezimmers im ersten Stock. Das Haus wirkt neu. Apple-Laptops und -Computer stehen in einem Arbeitsraum.Ganz oben unterm Himmel die offene Küche auf der Terrasse. «Hier werden wir nachher kochen», sagt Hu Fang, «wenn wir vom Feld zurück sind. Aber lass uns erstmal frühstücken und am Markt vorbeischauen. Kannst du Rad fahren?
Wir halten an einem Gemeinschaftsrestaurant. Ein grosses Dach auf Säulen, darunter eine offene Küche. Hier frühstücken die Dorfbewohner, bevor sie zur Arbeit gehen. Gleich nebendran liegt der Marktplatz. Das Essen ist lächerlich billig: Fünf Yuan. Reis oder Omelette. Wir trinken Grüntee. «Hier kennt jeder jeden», sagt Hu Fang. «Wir Künstler sind Aussenseiter im Dorf.»
Was bloss hat Hu Fang in dieses Dorf gebracht?
«Ich bin in einer Stadt aufgewachsen, aber jede Familie in China hat Wurzeln in der Landwirtschaft, aus der Zeit vor der Modernisierung. Die derzeitige gesellschaftliche Veränderung ist eine Herausforderung für die Leute. Die grosse Frage für mich ist, was genau <Modernisierung> bedeutet. Oft setzt man Modernisierung einfach mit Urbanisierung gleich ...» Draussen beginnt es zu regnen.
«Ich habe oft gehört, dass in China heutzutage keiner mehr Bauer sein will», sage ich.
«Was sind wir heute wirklich?» Hu Fang schaut mich fragend an. «Ich versuche immer auf diesen Punkt zu kommen: Wir müssen herausfinden, wie wir tatsächlich leben. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich sehr auf die materiellen Aspekte konzentriert, wenn sie ihre Umgebung betrachtet.» Dabei verkenne man den wahren Zustand. Das Materielle stehe für etwas wesentlich Realeres, findet Hu Fang. Kunst sei eine Praxis, durch die man die Wahrnehmung für diese Realität schulen könne. Und Essen sei eine solche künstlerische Praxis, eine Technik zur Wahrnehmung der Realität.
Die umgesiedelten Bauern pflegen jetzt ihre privaten, kleinen Gärten.
«Warum beispielsweise haben wir in China eine sogenannte Esskultur?» kommentierte Hu Fang. «Warum ist Essen mehr als bloss etwas rein Materielles, warum ist es nicht einfach etwas, um unseren Bauch zu füllen?
Ich glaube, die Materialität des Essens ist nur ein Portal, durch das man in etwas eintreten kann. Es gibt eine ganz andere, nicht materielle, aber lebensnotwendige Ebene des Essens. »
«Was hat das Guwei New Village denn damit zu tun?»
In China lebe man in einem dauernden Alarmzustand, sagt Hu Fang. Nichts sei von Bestand in diesem Rausch des Wandels. Daher sei es für jeden notwendig, eine Lebenshaltung zu entwickeln, die mit dem Wandel umgehen kann. «Wenn man beobachtet, wie diese Menschen hier im Dorf ihre kleinen grünen Lücken kultivieren, erkennen wir, dass sie Wege gefunden haben, ihre Kultur weiterzuführen.»
Die umgesiedelten Bauern versuchen, auf den Grünflächen der Retortenstadt kleine Felder zu pflanzen und diese zu renaturalisieren.
Nur eine dünne Erdschicht bedeckt den Boden dieses Bauernhofes, das Feld gleicht stellenweise an eine umgewälzte Müllkippe.
Darum gehe es bei seinem Projekt, meint Hu Fang: um einen mentalen Neuaufbau.
«Viel von dem, was uns in China täglich beschäftigt, besteht darin, nicht an unserem Hier zu bauen, nicht noch festere Mauern zu errichten, sondern zu verstehen, wie man am besten weitergehen kann, wenn es notwendig wird. Hier kommen wir zum «Daodejing» von Laozi. Dieses alte philosophische Werk dreht sich um den Wandel der Dinge. Das einzig Feststehende ist der konstante Wandel. Also ist es die Aufgabe des Menschen, nicht Energien zu blockieren, sondern diese zu lenken oder darin zu navigieren. Und heute ist genau das wieder wichtig.»
Der Regen legt sich. Hu Fang schaut den Bauern zu, wie sie Vieh vorbeiführen: «Denk an den Wandel durch die Industrialisierung der Landwirtschaft und wie er die Aufgaben der Menschen verändert hat, die das Land bearbeiten. Das hat auch die Dorfstruktur verändert, das soziale Gefüge. Die kulturelle Bedeutung des Landes geht über die Funktion hinaus, die Bäuche der Menschen zu füllen.»
«Du sagst, unsere Identität, unsere Rolle in der Gesellschaft, geht vom Land aus?»
Hu Fang nimmt etwas Omelette. «Wir stecken mitten in einer Industrialisierung, bei der das Land zur Fabrik gemacht wird. Oder zum Spekulationsgut. Es geht darum, den Profit des Bodens zu maximieren. So verlieren wir das Land. Und damit unseren Boden.»
Der Regen ist vorbei. «Sollen wir rüber zu eurem Feld?», frage ich. Hu Fang nickt. Wir kaufen am Markt etwas Fleisch und Obst, dann verlassen wir Guwei New Village, überqueren die sechsspurige Strasse und landen in einem parkartigen Grünland.
«Das hier ist das Naturschutzgebiet», sagt Hu Fang. «Das Feld ist nicht weit.»
Eine junge Assistentin von Hu Fang kommt vorbeigeradelt. Stolz zeigt sie ihre Ernte: ein Tütchen mit Fenchel-Samen.
Fahrt durchs Naturschutzgebiet. Felder, Gärtnereien, Fahrradweg, sauber, neu, abgezäunte Seen. Vogelgezwitscher, Stille, Wolken, dicke Luft, Geruch, süsslich, grün, pflanzig. Wir halten kurz an. «Schau dir einmal diesen Müllhaufen an», sagt Hu Fang. «Überall hier ist Müll, die Leute denken, es sei ein Teil der Erde.» Wir gärtnern und beobachten, wie unsere Wahrnehmung sich dabei formt.
Mitten im Naturschutzgebiet halten wir vor einer Baustelle. Arbeiter errichten hier einige beeindruckende Villen. «Wir sind da!» Hu Fang steigt ab. Das Feld habe ihnen ein Freund angeboten, der mit einer Restaurantkette für Grossanlässe reich geworden sei. Er wisse nicht genau, wie, aber sein Freund habe mitten im Naturschutzgebiet Land gekauft, um hier Ferien zu machen.
«Wir haben rund anderthalb Jahre über sein Angebot nachgedacht. Dann erkannten wir, dass es eine Menge interessanter Fragen aufwerfen würde, wenn wir genau hier etwas anbauten – ohne zu versuchen, soviel wie möglich aus dem Boden rauszuholen. Wir wollen dabei unser Empfindungsvermögen heranbilden. Dafür ist es wichtig, ein reales Fundament zu finden, einen echten Grund, von dem aus man sich ein Urteil bilden kann.»
Das Feld von Vitamin Creative Space ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Nur ein paar Furchen, ein hölzernes Tor und ein herumliegender Holzrahmen markieren eine Fläche so gross wie ein Handballfeld.
«Man könnte diesen Garten als eine Art Gemeinschaft betrachten, so wie die Pflanzen hier alle miteinander in Beziehung stehen», sagt Hu Fang. «Beim Bewirtschaften und Gärtnern geht es darum, eine Art von Kommunikation mit den Pflanzen und dem Boden aufzubauen. Darin besteht für mich der Anknüpfungspunkt zu den Lebensbedingungen des Menschen. Etwas, was wir heutzutage ignorieren. Wir übersehen, wie wir aus dem Grund erwachsen, wie wir <aufwachsen>. Wir haben den Kontakt zum Boden verloren. Wir wissen nicht mehr, woher wir kommen. Wenn wir hier auf dem Feld arbeiten, müssen wir lernen, mit diesem Grund zu koexistieren.»
Das Feld wird zum künstlerischen Experimentierfeld
Hu Fang deutet auf das Feld. «Es geht bei unserem Projekt darum, eine organische Perspektive zu entwickeln. Uns in Verbindung mit diesem Grund zu setzen, ohne dass wir verpflichtet sind, ihn produzieren zu lassen. Wir gärtnern und beobachten, wie unsere Wahrnehmung sich dabei formt. Dieser Grund hier, das ist nichts Abstraktes.»
Das Feld von Vitamin Creative Space.
Mir wird langsam klar, dass Hu Fang versucht, auf seinem Feld eine gesellschaftliche Philosophie zu entwickeln, die sich am Vorgang des Gärtnerns orientiert. Ob das etwas mit Bio zu tun habe, frage ich ihn. Hu Fang verneint: «Bio und Organic als Label sind das Versprechen einer Person. Und dieses Versprechen verwandelt sich oft in leere Worte, sobald das Geschäft beginnt. Dann wird es zu Propaganda, zu Werbung und löst sich in Nichts auf.» Das Bio-Modell beruhe auf einer Fortsetzung genau jenes Kaufens und Verkaufens, das die Menschen so weit vom Grund entfernt habe. «Was aber wäre, wenn Organic ein Weg zur Neuordnung deines Lebens würde? Ein Weg, um unabhängig vom System zu werden?» Das aus einer organischen Perspektive entstehende Produkt müsse eine Art Verbindung mit dem Boden darstellen, nicht einfach nur ein Lebensmittel frei von Pestiziden.
Hu Fang zeigt auf ein Wiesenstück, das weiter unten gleich neben dem Eingang liegt. Dorthin soll, wenn die Ferienresidenz seines Freundes einmal errichtet ist, sein Feld verlegt werden. Er will das Landstück dreiteilen: in einen Garten, in der Mitte eine Küche, anschliessend daran eine Bücherei mit Ausstellungsraum.
Was wäre, wenn Organic ein Weg zur Neuordnung deines Lebens würde?
Es scheint eine Mode in China zu sein, Essen und Denken zu kombinieren. Ich habe das öfter gesehen. Auf Hu Fangs geplantem Feld vereint sich beides in der Küche.
«Unsere Idee war», fährt Hu Fang fort, «den Fluss zwischen den verschiedenen Aktivitäten nicht zu unterbrechen. Die Küche funktioniert als Bindeglied zwischen den notwendigen Plätzen, die wir hier brauchen. Du kannst unser Vorhaben vielleicht besser verstehen, wenn du an die jüngere chinesische Geschichte denkst. Während der Kulturrevolution zwang der Staat die Intellektuellen, aufs Land zu gehen. Für viele chinesische Intellektuelle wurde das Land zum Ort des Schreckens. Als wir unser Feld eröffneten, musste mein Freund Zheng Guogu lachen. Er meinte, jetzt sei der Moment gekommen, wo die Intellektuellen freiwillig aufs Land ziehen.»
Er zeigt auf ein paar Eierschalen in der Erde. «Wir wollen mehrere Zuchtmethoden gleichzeitig ausprobieren. Hier ist ein mit Kompost gedüngtes Stück Feld. Unsere erste Frage ist: Wie können wir die Erde wiederbeleben, den Boden wieder fruchtbar machen? Die Erde hier ist durch die intensive Bearbeitung und die Chemie so hart, als wäre sie gefroren. Was du hier siehst, ist das Ergebnis eines beinahe anderthalbjährigen Reaktivierungsprozesses. Man muss sich auf die Erde konzentrieren.»
Ich frage Hu Fang, woher diese Methoden kommen.
«Wir sind dafür nach Österreich geflogen, zum österreichischen Bergbauern Sepp Holzer.» Hu Fang lacht. «Ich war erstmal geschockt, als ich auf Sepp Holzers Feld kam. Es sah alles so ... (zeigt auf ein besonders unkrautiges Eck ...) aus. Dann aber begann Josef, Holzers Sohn, der sich mittlerweile um den Berghof kümmert, uns in die Grundlagen des Landes und der Landschaft einzuführen. Wenn du bei ihm etwas pflückst, merkst du, dass alles essbar ist. Darin zeigt sich der Einfluss des Menschen. Gleichzeitig basiert alles auf dem freien Lauf der Natur. Es ist eine andere Ebene der Harmonie als die, die wir gelernt haben zu suchen.»
Wir radeln gegen halb sieben zurück zu Hu Fangs Studio. Auf Hu Fangs Dach beginnen wir, die Gemüse zu waschen und zu schneiden.
Der chinesische Künstler holt sich Hilfe bei einem österreichischen Bergbauern
«Ich denke, dass wir in einer Zeit leben, in der wir langsam erkennen, was die Veränderung unserer Nahrung für eine Wirkung auf unseren Körper hat», sagt Hu Fang beim Zubereiten der Speisen. «Essen ist eine Metapher für das physische Leben der Menschen, für die Qualität ihres Lebens.»
«Wenn Essen eine Metapher ist für die Qualität unseres Lebens, dann ist das aber eine sehr umfassende Aufforderung», sage ich.
«Richtig», antwortet Hu Fang. «Eine andere Frage ist auch, wie man das Individuum dazu bringen kann, freiwillig an einer Gemeinschaft teilzuhaben, ohne Zwang und ohne Angst, dass der Individualismus die Gemeinschaft schwächen könnte. Wenn wir also an die Esskultur Chinas denken, an die soziale Umwälzung, die derzeit stattfindet, dann finde ich es interessant, dass gerade jetzt eine Food-Bewegung entsteht, eine Art Welle, die auch junge Leute ergreift.»
Er schabt in der Pfanne, in der Fleisch, Ingwer und Chili brutzeln, und dreht die Flamme kleiner. «Oft kümmern sich die Menschen vor allem um sich selber. Es geht ihnen nur um ihre eigene Sicherheit. Genau wie bestimmten Leuten in der Regierung, die eigene biologische Farmen betreiben. Die Frage, die ich mir stelle: Wie können wir Essen wieder als den alltäglichen Dialog mit uns und unserer Welt und nicht als Ausdruck einer hierarchischen Struktur verstehen? Daher sollten Biolebensmittel billiger sein. Aber weil sie gebrandet sind ...» Er brät, räumt nebenbei Reste beiseite. « ... sind sie teurer. Die Lösung liegt also nicht in der Ware an sich, sondern in einer Ernährungsmethode, an der jeder teilhaben kann.»
«Du denkst, es ist ein Schwachpunkt des westlichen Bio-Systems, dass es sich zu einer Industrie entwickelt hat, die einfach die vorherige ersetzen will?», frage ich ihn.
«Genau», antwortet Hu Fang, «dieses System kann viel zu leicht zur Strategie entarten – und sich nicht mehr um die eigentlichen Ziele kümmern.»
Ein moralisches Leben führen und dafür auf Luxus verzichten?
«Es geht gar nicht darum, dass ich jemandem vertraue», sagt Hu Fang, «es geht um die Frage, ob du dem Land und dem Essen vertrauen kannst. Statt ein zwischenmenschliches Vertrauenssystem aufzubauen – das eben zu anfällig für Macht und Strategie ist –, sollte jeder Vertrauen zwischen sich und dem Land, dem Boden, aufbauen.»
Die nassen grünen Blätter zischen in seiner Pfanne. Auf dem Tisch sammeln sich Schalen mit Gerichten.
«Eure Strategie ist es also, Vertrauen zum Boden aufzubauen?», frage ich.
«Es ist keine Strategie», sagt Fang, «sondern ein Ziel. Wenn man in Beziehung zum Boden steht, dann kommt man auf sich selber zurück, zur Frage, was denn die wirklichen Bedürfnisse sind. Es ist, wie wenn man krank ist. Ist es dann besser, zuerst die eigene Krankheit zu verstehen oder mit anderen Patienten ein soziales Netzwerk aufzubauen? Die Krankheit kann nicht dadurch geheilt werden, dass wir Teil eines Netzwerks sind. Es dreht sich immer um ein individuelles Problem und die Frage, ob wir willens sind, dieses anzugehen.»
«Farming is not just a means of producing food, but also an aesthetic and spiritual approach to life. It ultimately leads to the cultivation of human beings.»
Hu Fang wählt in einem Brief dieses Zitat aus J.D. Salingers The Catcher in the Rye (deutsch:Der Fänger im Roggen).
«Wir müssen uns die Zeit nehmen für diese Option. Natur kann zum Teil deines Denkens werden. Wenn wir auf die Bio-Strategie setzen, kann das hingegen zur Falle werden und den gegebenen Zustand verlängern, weil wir damit den Bezug zum eigentlichen Inhalt, zu unseren Ansprüchen, verlieren. Das Ziel ist ein struktureller Wandel, nicht die Beibehaltung einer bestehenden Struktur.»
Allmählich wird es dunkel. «Es gibt noch einen anderen Aspekt in der chinesischen Kultur. Im Buch des Konfuzius steht: Ich habe lieber keinen Fisch und dafür wächst bei mir ein Bambus. Der Bambus steht für ein moralisches Leben. Der Spruch meint also: Lieber führe ich ein moralisches Leben und verzichte dafür auf den Luxus, Fisch zu essen.» Er dreht sich zu mir, stellt zwei Schalen auf den Tisch und schenkt mir Suppe ein.
«Sollen wir uns ein Bier holen?», frage ich ihn. «Gute Idee», sagt Hu Fang und geht zum Kühlschrank.