Welthunger
Al Imfeld plädiert dafür, weltweit Tabus und Verhärtungen aufzulösen.
Andreas Kohli sprach mit Al Imfeld
«Agrarkultur ist Kunst und Krampf», sagt Al Imfeld (79). Der Schriftsteller und Journalist, Theologe, Soziologe und Tropenlandwirt hat sich ein Leben lang mit sozialen Fragen, Ernährung und Landwirtschaft beschäftigt und ist ein so ganzheitlicher wie unbequemer Denker.
Herr Imfeld, Sie waren 1954 zum ersten Mal in Afrika. Seither sind Sie immer wieder auf allen Kontinenten gereist. Was ist aus Ihrer Sicht das brennendste Thema betreffend Ernährung und Landwirtschaft?
Wir befinden uns gegenwärtig mitten in einem gewaltigen Umbruch, der sich vor allem sozial manifestiert, aber auch einen agrikulturellen Wandel zur Folge hat. Dazu kommt, dass weltweit ein Entkolonialisierungsprozess im Gange ist. Nicht nur Männer und Frauen, sondern selbst Tiere und Pflanzen erhalten endlich Rechte und werden befreit. Alle müssen in dieser neuen Konstellation ihren Platz erst finden – wissend, dass eine Entkolonialisierung auch Kopf und Seele erfassen muss. Solches geht langsam vor sich. Aber das Neue, das sich Durchbruch verschaffen möchte, wird oftmals mit allen Mitteln und – am schlimmsten – fundamentalistisch verteufelt oder verdrängt.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Afrikas Landbevölkerung drängt in die Stadt und – wie es oft heisst – in die Slums. Regierungen und Hilfswerke wollen sie aufs Land zurückbringen. Ein nutzloses Unterfangen. Statt diese Menschen zu verjagen, sollten wir eine Kombination von Land und Stadt ins Auge fassen und Modelle einer städtischen Landwirtschaft entwickeln, die mehr ist als nur Gärtnerei. Über diese Aufgabe haben Bauern und Stadtplaner, Urbanisten, Architekten und Ethnologen nachzudenken – und zwar gemeinsam, nicht isoliert.
Sie plädieren für eine neue Art von Mischkultur in Produktion und Lebensweise?
Westliches, aufgeklärtes landwirtschaftliches Denken meinte sich zu modernisieren und zu verwissenschaftlichen, indem es Gesträuch und Unkraut wegputzte und alles gerade und sauber machte. Felder wurden an Maschinen und Kunstdünger angepasst und werden monokulturell, also ohne Interaktion mit anderen Organismen, bewirtschaftet. Diese Landwirtschaft setzt einseitig auf Ertragssteigerung, auf Wachstum.
In Zukunft werden wir neben grossflächigen Farmen aber auch kleine Kulturbetriebe haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die heutigen Kleinbetriebe mit allen Mitteln erhalten soll, denn auch sie basieren auf einer im Verschwinden begriffenen Denkweise und auf dem «vorkolonialen» Familienbegriff einer traditionellen Grossfamilie. Zudem sind die meisten Kleinbetriebe ebenfalls monokulturell und subtile Unterdrücker neue Ansätze.
In welche Richtung sollte sich die Agrarwirtschaft entwickeln?
Statt riesige Flächen mit dem gleichen Produkt zu bepflanzen, müssen die Landwirte wie in der mittelalterlichen Alchemie aufs Mischen und Kombinieren zurückkommen: nicht Trennung, sondern Verbindungen. Nicht Mono-, sondern Mischkulturen. Äcker für Getreide, gefolgt von Klee zur Regeneration des Bodens, daneben Bäume und Hecken für Früchte und Vögel, Bodenschutz und Schatten. Auch die Bodenfrüchte (Kartoffel, Maniok oder Yams) werden weltweit eine grössere Bedeutung erhalten. In den Anden gibt es über 3.250 verschiedene Sorten Kartoffeln. Und ein kamerunisch-deutsches Forschungsteam unter. Peter Ay hat herausgefunden, dass es allein in Westkamerun über 10.000 Sorten von Yams gibt. Da liegt noch unfassbar viel Genmaterial zum Kreuzen oder Kombinieren.
In dieser biologischen Vielfalt liegt ein grosses Potenzial. Wie können wir das nutzen?
Sowohl Produzenten als auch Konsumenten sollten erkennen, dass der heutige Zustand keinen Endpunkt darstellt. Die Entwicklung, die Entdeckungen gehen weiter. Pflanzenbiologen sprechen von 50.000 Pflanzen und Bäumen, die auf Nahrungsmittel hin domestiziert werden könnten. Bei Insekten und Tieren verhält es sich ähnlich. Da liegt also ein gewaltiges Potenzial, welches wir durch unsere Angst vor gentechnisch veränderten Produkten.leider teilweise blockiert haben. Dazu kommt der wirtschaftliche Wahn, dass alles, was eine bestimmte Firma züchtet oder weiterentwickelt, patentiert werden muss. Im Lebensmittelbereich sollte jegliches Patentieren im heutigen Sinn ethisch verboten werden: Kein Naturprodukt gehört einer Firma.
Selbstversorgung oder offene Grenzen: Was ist eine gute Balance?
Solange der alte Nationenbegriff eng verstanden wird, endet die Forderung nach Selbstversorgung im dümmlichen Nationalismus. Würde jede Nation der Welt darauf beharren, hätten wir eine «eingezäunte Hungersnot», denn um den Hunger in der Welt zu besiegen, braucht es offene Grenzen, Handel und Nahrungsmittelaustausch.
Also globaler Freihandel gemäss WTO?
Nein, diese Forderung hat nichts mit dem Freihandel nach heutigem WTO-Verständnis zu tun. Mein Konzept hat mit Entkolonialisierung zu tun und nicht mit dem wildem Handel der Nahrungsmittelmultis, die sich plötzlich in die Reihe der Bauern oder Landwirte einordnen. Mit andern Worten: Wir müssen in Theorie und Praxis lernen, den traditionellen Kleinbauer vom entkolonialisierten oder befreiten Kleinbauer zu unterscheiden. Oder den Austausch vom Handel, der Traditionen überrennt. Der globalisierte Handel hat in Afrika die ganze Landwirtschaft zerstört, denn «billiger» kann Gift und Zerstörung bedeuten.
Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die Menschheit ohne industrielle Landwirtschaft verhungern würde.
Das ist Unsinn! Seien wir ehrlich: Die Industrie will mit Landwirtschaft und Essen Geld machen. Das ist ihr Recht, solange sie nicht verdeckte koloniale Methoden anwendet. Patente und Samenzwang sind kolonial. Ich spreche aber trotzdem der Industrie ihr Existenzrecht nicht ab, sofern sie zu einer menschlich-sozialen Zusammenarbeit sowie zu mehr Offenheit und Sachlichkeit kommt. Das Agrobusiness ist heute zu stark in allen UN-Organisationen (FAO, WTO), Entwicklungsorganisationen (IMF) und sogar an Universitäten vertreten. Seine Macht zerstört Agrarkulturen und Landwirtschaft.
Sollten wir also viel stärker auf andere Agrarformen – Stichwort biologische Landwirtschaft – setzen?
Mich stört manchmal, dass sich andere Agrarformen – wohl aus Frust heraus – gegenüber dem Agrobusiness beinahe fundamentalistisch verhalten und mit reiner Verketzerung reagieren. Auch Bio ist nur eine Variante des Landbaus. Für mein Empfinden hat auch der biologische Landbau das Soziale zu wenig einbezogen.
Wie meinen Sie das?
Echter und guter biologischer Landbau kann nicht innerhalb des traditionellen Kleinfamiliensystems betrieben werden, weil unter dem Arbeitspensum und der permanenten zeitlichen Gebundenheit die persönliche Freiheit der betroffenen Menschen erheblich leiden würde.
Man wird daher genossenschaftliche Modelle einbeziehen müssen, denn Freizeit, Reisen und Wellness gehören heute zum legitimen Anspruch aller Menschen. Bereits in den 1960er-Jahren schufen etwa zwanzig Landwirte, Ökonomen, Ökologen und Soziologen die Grundlagen der Ecofarming-Bewegung. Man probierte diesen ganzheitlichen Ansatz, der Ökosysteme und soziale Systeme in Interaktion bringt, am Kilimandscharo und später in Ruanda aus. Inzwischen ist die Bewegung weltweit verbreitet und wird etwa in Japan, Indien, Brasilien, USA und teilweise in Europa praktiziert. Die Ökolandwirtschaft vernetzt landwirtschaftliche und soziale Systeme und legt sehr viel Gewicht auf Nachhaltigkeit. Sie wendet die Kunst des Mischens an.
Die Landwirtschaft produziert, damit der Mensch essen kann. Essen ist existenziell. Was denken Sie über das Essen der Zukunft?
Heute geht es darum, über das Essen global zusammenzukommen und andere Kulturen kennen zu lernen.
Es wird gesagt, dass Afrika deswegen hungert, weil es zu viele Essenstabus kennt. Ethnologen haben auf dem Kontinent insgesamt über 1.000 Tabus dokumentiert. Viele davon dienen dem Schutz vor dem Nachbarn oder einem Sich-Absetzen von den umgebenden Kleinvölkern.
Aber über das Essen kann auch Respekt und Frieden entstehen. Wir essen eben nicht nur, um satt zu werden, sondern um einander geschätzte Nachbarn zu werden. «Wir essen die Welt», das könnte unser Motto werden – und auch ein Motor für den Respekt anderen Kulturen gegenüber. Man soll nicht mehr sagen: «Das ess ich nicht!» Sondern: «Das ess ich mit!» Essen schafft Heimat. Neues Essen wird zur Heimat-Werdung. Man kann es auch anders sagen: In eine neue Heimat muss man sich ein-essen.
Sie plädieren für eine Vielfalt des Essens und für eine Ausweitung der Nahrungsmittel.
Um sich vor Hungersnöten zu schützen, darf es auch in der Ernährungsweise keine Monokultur geben. Abwechslung ist ein Grundmerkmal jeder Esskultur. Geschmack muss umgepolt und anders kultiviert werden. Auch an einen bestimmten Geschmack kann man sich gewöhnen.
Wir befinden uns bereits mitten in einer Nahrungsmittelausweitung. Dass aus Unkraut Salate werden, ist etwas Neues. Viele Völker der Erde kennen den Salat noch nicht, genauso wie mein Vater den Salat als Viehfutter betrachtet hat. Auch die Bedeutung des Tees harrt noch einer Entdeckung und Erweiterung. Mit Mischungen können – jenseits von Coca Cola oder Pepsi – beste Getränke entwickelt werden. Der Mensch braucht Abwechslung beim Essen, das Immergleiche «verleidet» es ihm, es gibt uns nicht mehr Lust und Leben. Wir leben heute nicht mehr abgeschlossen, wir sind Einflüssen aus der ganzen Welt ausgesetzt.
Wie blicken Sie angesichts Ihrer langen Erfahrung in die Zukunft?
In meinen Überlegungen geht es darum, dass wir auf eine neue Spur kommen. Wer Gesundheit für alles Lebende will, muss wissen, dass Agrarkultur und Landwirtschaft sowohl Kunst als auch Krampf sind. Doch wer den Sinn dahinter sieht, entwickelt nach und nach diese Mentalität, die zu einer Spiritualität wird.
1 Prof. Peter Ay, “The Biological Diversity of Yams in Western Cameroon”, 1979, IITA (International Institute of Tropical Agriculture, Ibadan, Nigeria)
2 «Ecofarming» wurde anfangs der 1970er-Jahre gegründet vom Biologen Prof. Dr. Kurt Egger und vom Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Bernhard Glaeser (Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie). Ecofarming hat das Ziel, den Boden nachhaltig zu nutzen und die Fruchtbarkeit zu erhalten. Der Boden kann so mit minimalem Kapitaleinsatz auf lange Zeit genutzt werden, die Ernteerträge bleiben relativ stabil, und die soziale und ökonomische Situation der Kleinbauern kann verbessert werden. Ein ähnliches Konzept verfolgt die Permakultur.» Ecofarming bezieht im Unterschied zu anderen Bio-Bewegungen die gesellschaftlichen und sozialen Aspekte mit ein.