Die Kunst der Nahrungssuche
Wer weiss, was er sucht, findet Nahrung überall
So sehr Brennesseln stechen, so gut schmecken sie… ©Adam Grubb and Annie Rasor-Rowland
Bevor die Menschen Landwirtschaft betrieben, sammelten und assen sie Wildpflanzen. Durch die modernen Annehmlichkeiten von Supermärkten und Kulturpflanzen haben viele in den westlichen Ländern keine Ahnung mehr, wie wilde Nahrungsmittel aussehen oder wie man sie zubereitet. Zum Glück gibt es immer noch Menschen, die dieses uralte Wissen erworben haben und weitergeben.
Eine davon ist Annie Rasor-Rowland. Sie organisiert zusammen mit Adam Grubb aus Melbourne, Australien, Workshops für lokales Nahrungsmittelsammeln. Gemeinsam veröffentlichten sie ein Buch, das zeigt, wie man essbare Kräuter erkennt und zubereitet.1 Adams Interesse wurde wach, als er sich mit pflanzlichen Heilmitteln zu beschäftigen begann. Er erkannte, dass viele Pflanzen seiner Umgebung nicht nur medizinischen Nutzen als Heilmittel boten, sondern auch als Nahrungsmittel verwendet werden können.
Er gab Annie einige gesammelte Blätter vom Kleinen Sauerampfer; nachdem sie zum ersten Mal das zarte süsse Grün gekostet hatte, war auch sie Feuer und Flamme und beschäftigt sich seither ebenfalls intensiv mit der Erforschung von Wildpflanzen.
Ihr Wissen hat sich Annie im Laufe der Zeit hauptsächlich selbst angeeignet – aus vielen Büchern sowie aus dem Internet, zum Teil aus Kenntnissen der Griechen und Italiener, die seit ihrer Einwanderung in Australien in den 1960er Jahren Wildpflanzen essen. Zu gewissem Grad gilt auch Versuch und Irrtum – stets aber basierend auf botanischer Forschung.
„Das Sammeln von Nahrungsmitteln zu erlernen, ist für jeden eine fantastische Bereicherung. Man erschliesst sich den Zugang zu all diesen nahrhaften kostenlosen Pflanzen, die sich hervorragend für Salate und zum Kochen eignen. Kräuter sind der perfekte Ausgleich für die moderne westliche Ernährung. Sie liefern nicht Kalorien in Mengen, sondern das, was der westlichen Ernährung fehlt, nämlich frische, nährstoffreiche und schmackhafte Pflanzennahrung.“ Zu den üblichen Nahrungspflanzen von Annie gehören Portulak, Sternmiere und Brennnessel.
Nahrungsbeschaffung ist nicht nur ein Garten-Hobby
Wenn Sie je eine Folge der beliebten Netflix-Serie Chef’s Table2 angesehen haben, wissen Sie, dass viele der besten Restaurants der Welt gesammelte wilde Zutaten verwenden, um ihren Gästen eine schöne Verbindung zwischen Landschaft, Jahreszeit und Kultur zu bieten.
Nick Blake ist ein professioneller Nahrungssammler aus dem Südosten von Queensland, Australien, der eine Reihe lokaler Köche mit wilden Zutaten versorgt.3 Er ist selbst Koch und meint, dass gesammelte Zutaten mehr über ein Gericht erzählen. „Bei der Nahrungssuche geht es darum, die verfügbaren Zutaten zu verstehen und zu lernen, den Einfluss der Jahreszeiten zu schmecken, zu riechen und zu schätzen. Diese tiefe Verbindung mit den Zutaten und die Möglichkeit, sie jede Woche mit den eigenen Händen zu pflücken, vermittelt mir eine tiefere Wertschätzung dafür, was es bedeutet, ein lokaler Koch zu sein. Das gibt mir ein Gefühl des Respekts für die Natur und regt den kreativen Prozess an.“
Nick führt eine stetig wachsende Liste, welche Zutaten wann Saison haben. „Die vorhandenen Pflanzenarten können sich von Woche zu Woche in Abhängigkeit von Faktoren wie Niederschlag, Luftfeuchtigkeit, Restfeuchtigkeit im Boden, Windrichtung an Land und auf See, Seegang, Gezeitenhöhe und Hochwassermenge im Einzugsgebiet erheblich verändern.“ Er wählt nur aus, was er braucht, damit seine Sammelaktivitäten nachhaltig bleiben.
Nick sucht oft an der Küste, wo er einheimische Zutaten findet, wie die wunderschöne pfeffrige Suaeda depressa (sea blight) und Neuseeland-Spinat (warrigal greens), Australiens Version des Spinats. Weiter im Landesinneren findet er zarte süsse Blumen wie Ananassalbei, Kapuzinerkresse, Wildrettich und einheimische Veilchen. Nick verwendet auch viele gebräuchliche Kräuter in seinen Gerichten, darunter Mariendistelblätter, Löwenzahnwurzel und Zwiebelkraut.
Tipps zum Selbermachen
Wenn Sie Lust bekommen haben, sich in Ihrer Umgebung selbst auf die Suche zu machen, müssen Sie zuallererst die jeweilige Pflanze zweifelsfrei identifizieren. Vermeiden Sie Pflanzen, die in der Nähe von stark befahrenen Strassen oder in Industriegebieten wachsen, wo es Bodenverunreinigungen geben kann, und überprüfen Sie, ob in Ihrer Gegend Unkrautvernichtungsmittel eingesetzt werden. Suchen Sie im Internet nach Organisationen, die in Ihrem Land Nahrungspflanzen sammeln, oder machen Sie jemanden ausfindig, der Ihnen zeigt, wonach Sie in Ihrer Gegend suchen können. Ein letzter Tipp: Suchen Sie nach frischen, jungen Pflanzen, wie es bei Kulturpflanzen üblich ist. So erhalten Sie die süssesten und weichsten Pflanzen.
Schlag nach bei Paracelsus!4
Während die in diesem Artikel abgebildeten Pflanzen wertvolle medizinische Eigenschaften haben und geschmackliche Vorzüge als Nahrungsmittel bieten, sollten wir uns der weisen Worte von Paracelsus erinnern: "Alle Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift – allein die Dosis macht, das ein Ding' kein Gift ist.” So kann übermässiger Verzehr folgender Arten unangenehme Nebenwirkungen haben. Brennnessel: Bei schlechter Nierenfunktion in mässigen Mengen zu geniessen; bei Hämochromatose (Eisenüberschuss) generell vermeiden. Da die Pflanze reich an Vitamin K ist, wird sie nicht empfohlen für Menschen, die Vitamin-K-Antagonisten einnehmen. Kleiner Sauerampfer: Wenn Sie grosse Mengen von Kleinem Sauerampfer oder Schafsampfer aufnehmen, kann die enthaltene Oxalsäure der Aufnahme von Kalzium entgegenwirken und womöglich eine Demineralisierung verursachen; reichlicher Verzehr kann zu Harn- und Nierenbeschwerden (Anurie, Urämie, Nierenschäden) sowie Durchfall führen. Portulak: Diese Pflanze ist ebenfalls reich an Oxalsäure, die die Nieren angreifen kann (daher sollte sie bei Nierensteinen nur in geringen Mengen verzehrt werden). Da sie auch die Blutgerinnung beeinflusst, könnte sie sich auf die Behandlung mit Gerinnungshemmern auswirken. Zudem ergab eine Studie, dass sie die Gebärmutter stimulieren kann. Daher empfiehlt sich für Schwangere, kein Portulak zu essen. Sternmiere: Sternmiere darf während der Schwangerschaft nicht gegessen werden. Während der Stillzeit wird von Sternmiere abgeraten. Der Verzehr grosser Mengen kann Durchfall und Erbrechen verursachen. Kapuzinerkresse: Übermässiger Verzehr dieser Pflanze kann Magen, Darm und Nieren reizen. |
GRUBB, Adam & RASER-ROWLAND, Annie, 2012. The Weed Forager’s Handbook: A Guide to Edible and Medicinal Weeds in Australia. Melbourne: Hyland House.