Die Sünde der Völlerei
Völlerei bedeutet unmässiges Essen. Die katholische Kirche erachtet sie als die fünfte (Gula) von sieben Todsünden. Theologen und Moralisten des Mittelalters verdammten sie und predigten Mässigung. Freude am Essen war nur bei geregelten gemeinsamen Mahlzeiten erlaubt. Die frühe Neuzeit ersetzt das Bild des Fresssacks durch das des Feinschmeckers oder Geniessers. Heute wendet sich Moral an Schlankheitskult und Gesundheitsbewusstsein.
Eine Todsünde
Hochmut, Geiz, Neid, Zorn, Wollust, Faulheit und Völlerei – im 13. Jh. bestimmte die katholische Kirche die Sieben Todsünden. Völlerei ist eine Todsünde, die weitere Sünden nach sich zieht. Allerdings entscheiden Absicht und Kontext, ob sie schwer oder verzeihlich ist. Magenfreuden verweisen auf Freuden des Unterleibs und damit auf die Sünde der Wollust, die die Sinne erregt und zu fleischlichen Wüstheiten bis hin zur Sinnenlust führen kann. Daher verdammt die christliche Moral diejenigen, „die den Bauch zu ihrem Gott machen“ (Paulus, Brief an die Philipper, 3) und gierig und masslos essen, denn die Gefrässigkeit erniedrigt sie zu Tieren und verleitet sie, das Prinzip christlicher Nächstenliebe und Teilens zu verhöhnen, während sie sich dem Verdacht verwerflicher Sexualität aussetzen. Die Darstellung des Fresssacks ist die eines Egoisten, der alles verschlingt, an sich reisst und in Hungersnöten zur gesellschaftlichen Bedrohung wird. So machte sich die Literatur des Mittelalters über gefrässige und geniesserische Mönche lustig; der verfressene französische König Ludwig XVI. (1754–1793) galt als verantwortlich für den Volkshunger.
Auch Freude an und Streben nach gutem Essen verfielen dem Sündenverdikt. So griffen die Reformatoren die Völlerei der Geistlichen an, die an Fastentagen raffinierte Fischgerichte und Leckereien zubereiteten. Das Christentum schwankt zwischen Toleranz und Strenge, sodass die Frage der Gaumenfreuden jahrhundertelang diskutiert wurde.
Die Antwort auf die Sünde der Völlerei liegt in der Mässigung, eine der vier Kardinaltugenden, jahrhundertelang gepredigt von Theologen, Moralisten und Pädagogen. Auch die ältere Ernährungslehre empfahl Ausgewogenheit und Masshalten. Wenn Essensfreude akzeptiert ist, müssen im Gegenzug Appetit und Tischsitten gezügelt und die Mahlzeit als gemeinsamer Akt gestaltet werden. So entwickelte sich die Esskultur und setzte der Völlerei einen akzeptablen Rahmen.
Die zwei Seiten der Völlerei
Einsicht und Wissenschaft befreiten die Völlerei ab dem 17. Jh. vom negativen Image. Kochbücher wurden publiziert. Die Wertschätzung des guten Essens entwickelte sich in Frankreich, dann in Europa zum Zeichen gesellschaftlicher Differenzierung. Die hedonistische Aristokratie schwelgte im 17. und 18. Jh. in Ausschweifungen, die gastronomische Raffinesse mit anderen Sinnesfreuden verbanden. Die negativ konnotierte Völlerei legte sich von jetzt eine Maske zu: Fresssäcke nannten sich Schlemmer, dann Feinschmecker, im 19. Jh. auch Geniesser. Völlerei bezog sich zu dieser Zeit vor allem auf süsse Speisen.
Heute wird Völlerei moralisch neu gewichtet. Schlankheitskult und medizinischer Diskurs machen sie erneut zum Vergehen. Wer sich an Ernährungsvorschriften hält, empfindet Essen als zwanghaft oder sogar frustrierend. „Der Völlerei nachzugeben“ wird zur Schuld, offenbart Charakterschwäche gegen sich selbst und die Gesellschaft, da Krankheiten Sozialkosten verursachen.
Fest und Fressen: Genussfreude und der sündige Bauch
Die Filme La Grande Bouffe (1973) (Das grosse Fressen) und Babettes gæstebud (1987) (Babettes Fest) handeln von einem Feinschmeckermahl. In Babettes Fest wird es zum Fest sozialer Gemeinsamkeit, sodass die enthaltsam lebenden Akteure sich zu Feinschmeckern entwickeln. Die Protagonisten in Das grosse Fressen verkörpern dagegen Völlerei als massloses Vergnügen für Bauch und Unterleib, vereinen kulinarische und fleischliche Lust, um schliesslich sich selbst Gewalt anzutun – eine Sünde, die Dante Alighieris Göttliche Komödie dem siebten Kreis der Hölle zuweist.
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