Gebändigte Lust
Um dem Essen das Tierische zu nehmen, hat das christliche Mittelalter Esslust und Völlerei zur Sünde erklärt. Die damaligen Ansichten bestimmen unsere Tischsitten bis heute.
Als Das grosse Fressen 1973 bei den Filmfestspielen in Cannes erstmals zu sehen war, gab es einen Aufschrei der Empörung, der Film von Marco Ferreri ist gespickt mit Anspielungen auf die französische Küche. An einem Wochenende treffen sich vier befreundete Männer zu einem gastronomischen Seminar – ähnlich wie in Vie et passion de Dodin-Bouffant, gourmet (1924). Philippe ist von Haus aus Jurist – wie auch Brillat-Savarin. Frauen sind zu Beginn des Abenteuers nicht zugegen. Als die mollige Andréa dazustösst, befürchtet Philippe, dass sie ihre kulinarischen Ausschweifungen verhindern könnte. Da sie nun aber eingeladen ist, darf sie sich an der Herstellung einer Torte beteiligen, indem sie den Teig mit ihrem Hintern plattdrückt. Das wiedergegebene Bild der Frau – geschlechtlich differenzierte Esslust, Verführung des Süßen und gastronomische Untauglichkeit – reflektiert die alte christliche Assoziation von Völlerei und Wollust als Todsünden, aber auch die heutige Frauenfeindlichkeit in der Welt der Gastronomie. Gegenstand des Skandals ist aber ein anderer. Es ist die Unanständigkeit der direkten Darstellung des gesamten Essvorgangs, von der Essensaufnahme bis zur Darmentleerung – was auch das Filmplakat von Jean-Marc Reiser sehr deutlich kommuniziert. Das Unbehagen des Zuschauers liegt in dem Aufeinandertreffen von zwei in der westlichen Welt widersprüchlichen Definitionen von Esslust, die in diesem Film von der Oberschicht verkörpert wird: die Obszönität des Fresssacks und das Gelage des Vielfrasses auf der einen Seite, die Kunst des kultivierten Speisens und des gebildeten Feinschmeckers auf der anderen.
Diese westliche Dualität der Lust am Essen geht bis in die Anfänge des Christentums zurück. Um 365 entwickelte Euagrios Pontikos die Lehre von den acht Lastern, mit denen der Teufel versuchte, der Erhabenheit der Mönche entgegenzuwirken, die sich in die westlichen Wüstengebiete zurückgezogen hatten. Das erste Laster bezog sich auf die Völlerei, das zweite auf die Wollust: Das Wortpaar «Völlerei und Wollust» war geboren.
Die Achtlasterlehre wurde auf die christlichen Gemeinden in der westlichen Welt übertragen und im 6. Jahrhundert von Papst Gregor dem Grossen modifiziert. Seit Anfang des 13. Jahrhunderts werden die sieben Todsünden jedem Christen beigebracht. Aber sowohl im klösterlichen Universum als auch in der Welt der Gläubigen hat das Ideal der Genügsamkeit die Entbehrung verdrängt. Ausserhalb der Mahlzeiten zu essen oder Mahlzeiten vorzuziehen, mehr zu essen und zu trinken als nötig, gierig zu essen, übermäßigen Wert auf die Zubereitung zu legen, all das definierte für Gregor den Grossen die Sünde der Esslust.
Wenn auch die Kirche die Ausschweifungen beim Essen, den Missbrauch von Nahrungsmitteln und vor allem von Getränken anprangert, so hat sie doch nichts gegen den Genuss von gutem Essen. Wie Thomas von Aquin schon im 13. Jahrhundert lehrte, sind weder Hunger und Durst noch die Lust am Essen zu tadeln, sondern ganz natürlich und von Gott gewollt. Es ist vielmehr die grenzenlose Gier auf Essen, die den Menschen zum Tier werden lässt. Eine vernünftige Begierde ist vor allem eine Frage des Takts, der Ausgewogenheit und des sozialen Anstands und befriedigt die physiologischen Bedürfnisse des Körpers, das Wohlbefinden des Essers und den Wunsch nach vernünftigem Umgang der Menschen untereinander.
Moralisten und Pädagogen wollen die Lust an gutem Essen akzeptabel gestalten und verbieten, und die Tischsitten sind eine Strategie im Kampf gegen die Völlerei. Man will der Esslust das Tierische nehmen, indem das Spektakel des Vollfressens und die Essgier verbannt werden: Der Vielfrass verschlingt grosse Stücke. Wer Brot vor der eigentlichen Mahlzeit isst, hat keine Geduld. Sich die besten Stücke zu nehmen, weist auf eine schlechte Kinderstube hin. In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters nimmt die Anzahl der von Klerikern und Laien verfassten Benimmregeln rasch zu. Dieser im 12. und 13. Jahrhundert beginnende Prozess der Zivilisation der Sitten, um es mit den Worten des Soziologen Norbert Elias zu sagen, verbreitet sich allmählich in der westlichen Welt – zunächst aber nur an den Tischen der Elite. In Über die Umgangserziehung der Kinder (1530) von Erasmus findet die klassische Erziehung ihre erste Festschreibung.
Gewisse Verhaltensweisen seien zu verbieten, andere hingegen unerlässlich. Der zwanghafte Blick auf Nahrungsmittel verrät den Vielfrass unter uns. «Es ist nicht wichtig, was man isst, sondern mit wem man isst», wusste schon Montaigne. Auch die Körperhaltung ist von Bedeutung: gerade sitzen, sich nicht über seinen Teller beugen, am Tisch nicht einschlafen. Die Gestik unterliegt einem besonderen Kodex: Wie bedient man sich selbst? Wie schneidet man das Essen? Wie führt man es zum Mund? Und Achtung, mit vollem Mund spricht man nicht. Alle unpassenden Geräusche mit Zunge, Lippen, Kehle sind zu vermeiden. Mit gutem Benehmen wird versucht, über den natürlichen Verdauungszyklus – Kauen – Schlucken – Verdauen – Ausscheiden – und die mechanischen Begleitgeräusche hinwegzutäuschen: Bauch, verhalte dich ruhig!
Diese Esslust bricht mit der Vulgarität des Bauches / Unterleibs zu Gunsten des höher bewerteten Gaumens / Gehirns. Der Experte in puncto gutem Geschmack, der Gourmand, kennt die Delikatessen und die richtigen Worte, um darüber zu reden. Grimod de La Reynière beschreibt in seinem Almanach des Gourmands (1803–1812) diese Metamorphose in der Gestalt des schlanken, zivilisierten Geniessers. Die Esslust in Form des obszönen Vielfrasses und unanständigen Fresssacks findet laut Grimod ihren Widerspruch vor allem in der Höflichkeit.
Der von Grimod verherrlichte, von Brillat-Savarin bestätigte und von Marco Ferreri entweihte, gebildete Gourmand wird im 19. Jahrhundert zum Gourmet und Feinschmecker. Die Erfindung des Feinschmeckers stärkt die Intellektualisierung und Vermännlichung des Vergnügens an gutem Essen, verleitet aber zu einer Abwertung der Esslust von Frauen und Kindern, die im süssen Universum aus Leckereien und Desserts gestillt wird, wie es von der rundlichen Lehrerin Andréa in Das grosse Fressen dargestellt wird.