Was, wenn die Welt vegetarisch würde?
Wenn wir weniger oder gar kein Fleisch mehr verzehrten, wirkte es positiv auf unsere Gesundheit und die Umwelt. Einige Erklärungen.
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Vegetarier entscheiden sich aus Gründen des Geschmacks oder der Ethik für diese Lebensweise. Angesichts jüngerer Forschungsergebnisse fragen Menschen sich: Sollen wir aufhören, Fleisch zu essen? Fleischprodukte von den Tellern zu verbannen, hätte positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit, aber auch auf die Umwelt. „Wir stellten fest, dass – ernährte sich die Welt im Jahr 2050 vollständig vegetarisch – im Vergleich zum derzeitigen Konsum die Treibhausgas-Emissionen um 60% und die Sterblichkeit um 9% zurückgingen“, erklärt Marco Springmann, Forscher am Oxford Martin Programme on the Future of Food.
Der Forscher betont, dass die meisten Menschen weder das empfohlene Minimum von fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag essen, noch den Verzehr von rotem, verarbeiteten Fleisch auf weniger als 500 Gramm1 pro Woche beschränken. „Eine Ernährung mit mehr Obst und Gemüse und weniger rotem, verarbeitetem Fleisch reduziert das Risiko von Herzerkrankung, Schlaganfall, Diabetes und einigen Krebsarten“.
Einschneidende Veränderungen
Natürlich würde ein derartiger Nahrungswechsel einschneidende Veränderungen im weltweiten Ernährungssystem fordern. Das Oxford Martin Programme on the Future of Food schätzt, dass sich Produktion und Verzehr von Obst und Gemüse in einigen Regionen – in Subsahara-Afrika oder in Südasien – mehr als verdoppeln müssten, um den Ernährungsempfehlungen zu genügen. Dagegen wäre der Verzehr von rotem Fleisch weltweit zu halbieren, in der westlichen Welt, Ostasien und Lateinamerika gar um zwei Drittel zu reduzieren.
„Wir müssen die verschiedenen Wege genau analysieren, damit das Ernährungssystem die Herausforderungen für Umweltschutz und Gesundheit meistern kann, sollten die derzeitigen Entwicklungen fortdauern“, betont Marco Springmann. „Wir hoffen, dass die laufenden sowie künftige Forschungen dazu beitragen.“ Das Oxford Martin Programme erstellt Analysen, die eine Prognose des weltweiten Nahrungsmittelproduktionssystems bis ins Jahr 2050 ermöglichen. Dabei werden schrittweise Anpassungen berücksichtigt, um Inhaltsstoffe für eine nachhaltigere Ernährung zu produzieren. „Abgesehen von sich bereits ändernden Verbraucherpräferenzen kommt es darauf an, dass die Entscheidungsträger Anreize zur Aufgabe von gesundheits- und umweltschädlichen Ernährungsgewohnheiten schaffen und diejenigen belohnen, die das tun.“
Weniger umweltschädliches Hähnchen
Hinsichtlich der Treibhausgas-Emissionen erinnert der Forscher daran, dass Tierprodukte am schädlichsten für die Umwelt sind. Rinder verursachen etwa 20 Mal mehr Emissionen pro Gramm Eiweiss als Hülsenfrüchte. Geflügel produziert weniger Emissionen als Rinder, jedoch immer noch drei Mal mehr als Hülsenfrüchte2.
„Wir gehen davon aus, dass die aus der Lebensmittelproduktion resultierenden Emissionen bis 2050 allein durch Reduktion des Verzehrs von rotem Fleisch (Rind, Lamm und Schwein) unter Beibehaltung des Geflügelkonsums auf dem prognostizierten Stand um 30% sinken können “, erklärt Marco Springmann.
Gestärkte Artenvielfalt
Eine vegetarischere Welt stärkte wahrscheinlich auch die Vielfalt des Lebens auf der Erde. Denn die von Viehzucht beanspruchten Flächen – Weideland oder zur Tierfutterproduktion – tragen massgeblich zum Verlust von Lebensräumen und zur Bedrohung von Arten bei. Dazu kommt die Nachfrage: Bei erhöhtem Pflanzenverbrauch wird auch eine grössere Vielfalt konsumiert. „Derzeit stammen 95% der aufgenommenen Kalorien von nur 30 Pflanzenarten, obwohl ungefähr 7000 für den menschlichen Verzehr angebaut wurden, und die Zahl aller Arten 400 000 beträgt“, betont Marco Springmann.
Und welche Zukunft hätten die in der Fleischproduktion tätigen Menschen? „Die Landwirte, ob auf Tiere oder Pflanzen spezialisiert, wären integraler Bestandteil beim Übergang zu einer gesünderen und nachhaltigeren Ernährung“, bemerkt der Forscher. „Wir stellen seit Jahren am Beispiel der Landwirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft fest, dass die Landwirte sensibel auf Veränderungen der rechtlichen Bestimmungen reagieren. Mit den richtigen Anreizen und Fördermechanismen wäre ein schrittweiser Übergang zu mehr pflanzlicher Nahrung möglich, ohne die Landwirte zu gefährden.“
Andere Ersatzprodukte
Alexandre Fricker ist Geschäftsleiter von Slow Food Schweiz, einer Vereinigung, die das Recht auf qualitativ hochstehende Ernährung für alle proklamiert und sich zum Schutz von Artenvielfalt, Kultur und Know-how einsetzt; er befürwortet ein quantitatives Gleichgewicht zwischen tierischen und pflanzlichen Produkten.
Bezüglich der Ernährung weist er darauf hin, dass ein Teil des geringeren Fleischkonsums durch Soja3-Proteine ausgeglichen werden könnte, die in verschiedenen Formen angeboten werden: als Getränke oder aromatisiertes Steak. „Eiweiss findet sich auch in Hülsenfrüchten wie Linsen, Kichererbsen, getrockneten Ackerbohnen, getrockneten Erbsen oder rohen weissen Bohnen. Getreide ist ebenfalls eiweissreich.“ Man könnte auch verstärkt auf Nahrungsmittel wie Reis, Roggen, Mais, Haferflocken oder Vollkornbrot setzen, auch auf Trockenfrüchte oder Ölhaltiges wie Cashewnüsse, Haselnüsse, Pistazien, Walnüsse oder Pekannüsse.
Vorteile der Tierproduktion
Die Europäische Vieh- und Fleischhandelsunion (UECBV) vertritt einen anderen Standpunkt. Studien, die die Schädlichkeit tierischer Produkte für die Ernährung wie für Umwelt und Lebensmittelsicherheit nachweisen, nehmen zwar ständig zu, doch für Jean-Luc Mériaux, den Generalsekretär der UECBV, handelt es sich um ein Kommunikationsproblem: „Studien, die die Vorteile tierischer Produkte belegen, sind ebenso überzeugend wie die, die ihre schädliche Wirkung darstellen. Ich verweise beispielsweise auf eine kürzlich erschienene Publikation der Carnegie Mellon University (Pittsburgh) mit dem Ergebnis, dass – befolgten alle Menschen die Ernährungsempfehlungen – dies zu einer Erhöhung des Treibhausgas-Ausstosses um 6%, des Wasserverbrauchs um 10% und des Energieverbrauchs um 38% führte“4 – eine diskutable Publikation, weil sie die Komplexität der untersuchten Probleme anzeigt und das Thema nicht vereinfacht darstellt.
Mériaux zieht daraus mehrere Erkenntnisse – vorausgesetzt Interessenskonflikte und dogmatische Sichtweisen werden ausgeschlossen: Ernährungsproduktion ist ein komplexer Prozess, die Bewertungskriterien sind nicht einheitlich, Unsicherheit überwiegt die Gewissheit, und am Ende decken sich Umweltinteressen nicht zwangsläufig mit denen der Gesundheit. Es bedarf also eines Ansatzes, der alle Parameter berücksichtigt: Ernährung, Umwelt, Wohlbefinden, Wirtschaft und Gesellschaft. „Selten berücksichtigen die einschlägigen Studien die positiven Wirkungen tierischer Produkte – z.B. Kohlenstoffbindung, Pflege der ohne Tierzucht versteppenden Böden oder die hohen Nährwerte“, sagt Jean-Luc Mériaux. „100 Gramm Rindfleisch enthalten ein Gramm Eisen, während man 1,2 Kilogramm Linsen für die gleiche Menge benötigt.“
Katie Rose McCullough, Direktorin für Wissenschaft und rechtliche Bestimmungen am North American Meat Institute, kritisiert einige Annahmen und Vereinfachungen jüngst erschienener Studien, die die Gefährlichkeit tierischer Produkte belegen. Sie weist besonders auf den Nährstoffmangel bei fleischloser oder fleischarmer Ernährung hin – bei Vitamin B12, Zink, Kalzium und Eisen. „Das sind reale Risiken mit einschneidendem Effekt auf die allgemeine Gesundheit“, sagt sie. „Wir sind einig im Wunsch, die Menschen mit geringstmöglichen Umweltauswirkungen zu ernähren, und überzeugt, dass eine ausgewogene Ernährung mit Fleischanteilen gut ist für Mensch und Planet.“