Vom Garten zur Milchgerinnung
Seit ihren historischen Anfängen hat die Menschheit Pflanzenextrakte für Medikamente, Balsame, Getränke und Gewürze sowie zur Zubereitung von Nahrungsmitteln wie beispielsweise der Käseherstellung genutzt.
Pflanzenextrakte wurden seit dem Altertum als Milchgerinnungsmittel (pflanzliches Lab) eingesetzt: Wie es in der Ilias heisst, benutzten die Griechen den Saft von Feigenblättern, um Milch gerinnen zu lassen. Zahlreiche Länder wie etwa Spanien und Portugal im Mittelmeerraum, Teile Nord- und Westafrikas sowie Südeuropas besitzen eine lange Tradition in der Verwendung von pflanzlichem Lab bei der Käseherstellung. Oft werden diese Käsesorten aus Ziegen- oder Schafsmilch hergestellt, denn bei Käse aus Kuhmilch kann pflanzliches Lab einen bitteren Geschmack hervorrufen1.
Pflanzliches Lab bei der Käseherstellung
Es gibt vier Hauptquellen für Lab: tierisches Lab (das aus den Mägen geschlachteter Kälber gewonnen wird), mikrobielles Lab, rekombinantes Chymosin (von GVOs – gentechnisch veränderten Organismen produziert) und pflanzliches Lab. Traditionell verwenden die meisten Käsehersteller tierisches Lab. In jüngster Zeit jedoch sorgen verschiedene Faktoren für ein wieder aufkeimendes Interesse an aus pflanzlichen Quellen gewonnenen Milchgerinnungsmitteln zur Käseherstellung. Zu diesen Faktoren gehören der hohe Preis und die beschränkte Verfügbarkeit von Mägen von Wiederkäuern, ferner Ernährungsweisen wie Lakto-Vegetarismus, religiöse Ernährungsvorschriften (z.B. Koscher und Halal) oder auch das Verbot von Kalbslab aus der Produktion von gentechnisch veränderten Organismen in vielen europäischen Ländern (z.B. Frankreich, Deutschland und die Niederlande). Lakto-Vegetarier können Käse, der mithilfe von Lab aus einem dieser drei Länder produziert wurde, als vegetarisch betrachten.
Jedoch ist es nicht gerade die einfachste Lösung, bei der Käseherstellung tierisches Lab durch milchgerinnende pflanzliche Enzyme zu ersetzen. Denn diese haben einen negativen Einfluss auf die Textur und den Geschmack des Käses und ergeben im Vergleich zu anderen Labquellen eine geringere Ausbeute an Käse1.
Zu den Pflanzen, die als Quelle für pflanzliches Lab zur Käseherstellung benutzt werden können, gehören Gelbes Labkraut (Galium verum), Kardonen (Cynara cardunculus), Artischocken und weitere Arten der Gattung Cynara1,2 sowie die Grosse Brennnessel (Urtica dioica) und der Fettblattbaum (Calotropis procera).
Eine lange europäische Tradition
In Europa wurde bei der Käseherstellung lange Zeit Gelbes Labkraut zur Milchgerinnung eingesetzt, sei es als Ersatz oder als Ergänzung zu Kalbslab, eine Funktion, die ihm schliesslich auch zu seinem Namen verhalf. Maude Grieve hält fest, dass im 16. Jahrhundert in Gloucestershire (England) Gelbes Labkrautoft in Verbindung mit Brennnesselextrakt bei der Käseherstellung verwendet wurde. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde es jedoch nicht mehr eingesetzt und die genauen Verfahren sind daher verloren gegangen3. Man geht davon aus, dass die Blätter und Halme, die die milchgerinnenden Bestandteile enthalten, einem gelben Farbstoff hinzugefügt wurden, um daraus eine Extraktlösung herzustellen. Dieser Extrakt trug höchstwahrscheinlich zur tief goldgelben Farbe des Käses bei. Heute hat Annatto (Bixa orellana L.) das Gelbe Labkraut als natürlichen Farbstoff für Gloucester und Double Gloucester Käse abgelöst4.
Spanien und Portugal sind heute die grössten Produzenten von vegetarischem Käse. Sie haben eine lange Tradition in der Nutzung von Gerinnungsmitteln aus Kardonen, Artischocken und anderen Cynara-Arten für ihre vegetarischen Käsesorten. Die traditionellen Tortas aus der spanischen Region Extremadura nutzen Kardonen als Gerinnungsmittel. Azeitão und Castelo Branco aus Portugal sowie Chiviri aus Spanien sind weitere hervorragende Beispiele für vegetarische Käsesorten aus der Mittelmeerregion5. Die Textur und das Aroma dieser Käsesorten sind vielleicht etwas ungewöhnlich, auf jeden Fall jedoch köstlich.
Die für die Milchgerinnung verwendeten Bestandteile sind in den Staubgefässen der Kardonen, Artischocken und verwandten Arten enthalten. Sie werden von der Blüte gepflückt oder abgeschnitten, getrocknet und zu einem Pulver vermahlen, das danach in Wasser eingeweicht wird, um die milchgerinnenden Enzyme zu extrahieren. Diese wässrige Lösung wird anschliessend gefiltert, um unerwünschte Rückstände zu entfernen und schliesslich zur Milchgerinnung bei der Käseherstellung eingesetzt. Frisch gepflückte Staubgefässe können ebenfalls verwendet werden, doch um Lagerprobleme wie etwa Schimmelbildung zu vermeiden, werden die Staubgefässe normalerweise getrocknet und können so bei richtiger Lagerung bis zu 2 Jahre lang verwendet werden6.
Den richtigen Käse finden
„Vegetarische“ Käsesorten haben einen grösseren Marktanteil, als man gemeinhin glauben möchte. Sie sind jedoch nicht immer leicht zu erkennen, da die Etikettierung oft unvollständig ist oder keine Angaben über das verwendete Lab enthält. Käsesorten mit einem Koscher- oder Halal-Label können nicht mit tierischem Lab hergestellt worden sein und deshalb von Lakto-Vegetariern als vegetarisch betrachtet werden.
Zahlreiche traditionelle europäische Käsesorten wie der Parmigiano-Reggiano5 sind gesetzlich dazu verpflichtet, tierisches Lab zu verwenden, um die Anforderungen der geschützten Ursprungsbezeichnung zu erfüllen. Wenn vegetarische Varianten existieren, tragen diese statt des geschützten Ursprungnamens einen generischen Namen, wie beispielsweise Parmesan-Käse. Glücklicherweise gibt es zahlreiche Websites, die vegetarische Käsesorten auflisten. Einige jedoch unterscheiden nicht zwischen mit pflanzlichem Lab hergestellten Käsesorten und solchen, die mit rekombinantem Chymosin produziert wurden.
Für Menschen, die bei ihrer Ernährung auf gentechnisch veränderte Lebensmittel verzichten möchten, ist es wichtig, auf diesen Unterschied zu achten, da Chymosin aus gentechnisch veränderten Organismen GVOsgewonnen wird. Mehr als 90 % der in den USA produzierten Käsesorten werden mithilfe von auf diese Weise hergestelltem Kalbs-Chymosin erzeugt, was die Liste der GVO-freien Alternativen ziemlich verkürzt.
Doch ganz gleich, wie Ihre Ernährungsgrundsätze aussehen: Nach Käsesorten zu suchen, die unter Verwendung pflanzlichen Labs hergestellt wurden, ist der Mühe wert. Ihr einzigartiges Aroma und ihre weiche, verlockende Textur sind eine grossartige kulinarische Abwechslung zu traditionellen, mit tierischem oder rekombinantem Lab hergestellten Käsesorten. Warum nicht einmal einen leckeren La Serena (Spanien) oder Zimbro (Portugal) probieren, die mit Distellab hergestellt werden und die beide ein ganz eigenes, salziges Aroma haben? Oder pflanzen Sie gleich Gelbes Labkraut, Kardonen oder Artischocken an, um daraus ihren eigenen vegetarischen Käse herzustellen! Sie werden auf jeden Fall mit einem wunderbaren Geschmackserlebnis belohnt.