Errare sapidum est
Kulinarische Fehler sind nicht immer ein Unglück; sie können, wenn der Zufall es will, zu erfolgreichen neuen Rezepten führen.
In der Küche ist Ungeschick, anders als man denkt, nicht immer schlecht... ©Shutterstock/Everett Collection
Wenn eine Neuentdeckung durch Zufall oder auf der Suche nach etwas anderem gelingt (wie die Entdeckung Amerikas), spricht man von Serendipität. Hier verraten wir einige solcher kulinarischer Zufallsfunde, die dann zu bekannten Spezialitäten wurden. Manche der Geschichten sind wahr, bei anderen handelt es sich um Legenden – doch immer war der Fehler einfach... schmackhaft!
Blonde Schokolade
2012 kam als Neuling unter den klassischen Schokoladesorten (Zartbitter-, Milch- und weisse Schokolade) die blonde Schokolade auf den Markt – jüngstes Beispiel für echte Serendipität.
Die Geschichte ihrer Erschaffung reicht acht Jahre zurück, als der Schokoladenfabrikant Frédéric Bau weisse Schokolade viele Stunden in einem Wasserbad vergass. Als er seinen Fehler bemerkte, stellte er fest, dass die Farbe sich in Blond verwandelt hatte. Der Geschmack der Schokolade war eine Mischung aus „geröstetem bretonischen Butterkeks“, „karamellisierter Milch“ und „Rohzucker“2. Die Wissenschaftler des Hauses Valrhona benötigten mehrere Jahre der Forschung und Entwicklung, um sie in grossen Mengen herstellen zu können.
Milchkonfitüre
Der Ursprung von Milchkonfitüre unterscheidet sich von Land zu Land. In Frankreich hat der Legende nach ein Koch Napoleons I. während einer Schlacht eine Schüssel mit gezuckerter Milch zu lange erhitzt, sodass sie zu einer wohlschmeckenden karamellisierten Paste geworden war. In Lateinamerika und besonders in Argentinien, wo sie weithin bekannt ist, entstand die dulce de leche der Überlieferung nach an einem Abend im Jahr 1829: Eine Mestizin in Diensten des General Rosas vergass gezuckerte Milch auf dem Feuer, als jener sich anschickte, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Der wahre Ursprung der dulce de leche ist aber unbekannt und liegt vermutlich in grauer Vorzeit. Zwei Tatsachen sind hervorzuheben: beide Legenden besprechen die Erfindung der Milchkonfitüre als leckerer Süssigkeit in kriegerischem Kontext (die Kunst der Gastronomie verfeinert die Sitten); zweitens zeigen Handelsregister von 1620, dass dulce de leche damals häufig von Chile nach Argentinien exportiert wurde3.
Tarte Tatin
Eines der bekanntesten Beispiele der Serendipität ist der Ursprung der Tarte Tatin. Der Legende nach trägt sie den Namen seiner Erfinderinnen, zweier Schwestern, die ein Restaurant in Lamotte-Beuvron in der Sologne (Frankreich) betrieben. An ihrem Anfang stand ein Missgeschick: Eine der Schwestern Tatin soll den Kuchen dummerweise im Ofen umgestürzt haben.
Historiker versuchten, den Ursprung dieser legendären Nachspeise zu ergründen4. Ein von einer Köchin des Grafen von Chatauvillard erfundenes und an Fanny Tatin weitergegebenes Rezept? Missgeschick einer der Schwestern? Regionale Küche? Die Spuren enden im Nebel, und harte Fakten mischen sich mit Erzählungen.
Nutella
Im Sommer 1946 entwickelt Pietro Ferrero, Konditor aus Piémont, eine Ganache für Kuchen. Kakaobohnen waren damals kurz nach dem Zweiten Weltkrieg rar in Italien, und so ersetzte er einen Teil des Kakaos durch gemahlene Haselnüsse. Dadurch erhielt er eine Art Kakaostollen, den man schneiden und auf einem Brotstück servieren konnte, genannt Giandujot zu Ehren einer bekannten Karnevalsfigur jener Zeit5.
1951 schmilzt ein Stollen Giandujot in der Sonne und wird weich. Michele Ferrero, der Sohn von Pietro, nimmt sich dieser Streichmasse an und verkauft sie in Gläsern mit unmittelbarem Erfolg unter dem Namen Supercrema6. 1964 erhält das Produkt den Namen Nutella, der sich in allen Sprachen leichter ausspricht.
Carambar
Carambar entstand 1954 in der Schokoladenfabrik Delespaul-Havez in Marcq-en-Baroeul, einem Vorort von Lille. Der Sage nach soll eine Maschine bei einer Kakao-Karamell-Mischung nicht richtig funktioniert und Riegel produziert haben, die länger waren als geplant. Tatsächlich kann zwar die Mischung von Kakao und Karamell durchaus auf einem Rezept-Fehler beruhen, die Länge des Bonbons bestimmt das Unternehmen jedoch, um sich von der Konkurrenz zu unterscheiden7. Dieses Karamell in Form eines Stabes [franz.: barre] gab der Marke ihren Namen: Caram’bar. 1972 wird das Bonbon zu Super Caram’bar, verliert schliesslich 1984 den Apostroph und heisst seither Carambar.
Maisflocken von Kellogg
Durch einen „Unfall“ stellten 1898 Will Keith Kellogg und sein Bruder Dr. John Harvey Kellogg, Direktor einer Pflegeeinrichtung in Michigan, Weizenflocken her, als sie eigentlich Müsliriegel zubereiten wollten. Sie suchten nach neuen Speisen auf Getreidebasis, um den Sexualtrieb ihrer Patienten zu mindern. Eines Tages vergassen sie einen Topf mit Weizenbrei. Zurückgekehrt, war der Weizen fermentiert und hart. Da sie das Lebensmittel nicht wegwerfen wollten, wallten sie den Teig mit dem Wellholz aus, wobei die Weizenkörner zerplatzten und zu Flocken wurden, die sie kochten8. Das gleiche Verfahren wandten sie auf Maiskörner an und erfanden so die Cornflakes.
Chips
Die Legende besagt, dass Chips zufällig am 24. August 1853 von George Crum, dem Koch des Moon’s Lake House Hotel in Saratoga Springs im US-Bundesstaat New-York erfunden wurden. Ein Gast, der Eisenbahnmagnat Cornélius Vanderbilt, bemängelte, dass die Bratkartoffeln zu dick seien und schickte sie in die Küche zurück. Der wütende Koch beschloss, die Kartoffeln so klein zu schneiden, dass es nicht mehr möglich wäre, sie mit der Gabel aufzuspiessen. Zu Crums Überraschung war der penible Gast vom Ergebnis höchst begeistert! Der Erfolg war überwältigend, und die „Saratoga Chips“ eroberten sich einen festen Platz auf der Speisekarte.
Doch diese Geschichte entspricht leider nicht der Wirklichkeit. Der lästige Gast konnte nicht Cornélius Vanderbilt sein, weil der sich derzeit auf einer Europareise befand9. Zudem erwähnte der New York Herald bereits 1849 eine gewisse Eliza, Köchin im Lake House, deren Ruf für Bratkartoffeln legendär war. Schliesslich gibt es Kochbücher aus jener Zeit, so The Cook’s Oracle von William Kitchiner von 1822 mit Rezepten für in Scheiben oder Spänen gebratene Kartoffeln10. Auch hier mischen sich Fiktion und harte Fakten; der tatsächliche Ursprung der Chips wird wahrscheinlich für immer im Dunkel bleiben.
Wirkliche oder ausgedachte Erfindungen?
Nach der Schilderung dieser sieben Rezepte ist ein Umstand bemerkenswert: ihr Wahrheitsgehalt ist ungewiss, obwohl es sich keineswegs um lang zurückliegende Erfindungen handelt. Danièle Bourcier und Pek van Andel meinen, dass die „Serendipitäts-Gerichte“ oft als Vorwand für mehr oder weniger erfundene Geschichten herhalten. Sie weisen in eine Vergangenheit, in der kulinarisches Wissen mündlich weitergegeben wurde. Der Wert dieser Legenden liegt weniger in einer präzisen Entstehungsgeschichte von Speisen, als vielmehr in der enthaltenen Moral: „Jedes Unglück hat auch sein Gutes.“11
Manchmal werden Legenden bewusst gepflegt. Gerade die Lebensmittelbranche führt die Geschichte einer Marke gern auf einen Mythos zurück, der das Unternehmen und einen gewitzten Gründer umgibt. So macht man das Beste aus seinen Umständen, und ein zufällig entwickeltes Produkt erhält ein sympathisches Image12.
Typologie der Serendipität
Mehrere Arten von Serendipität lassen sich unterscheiden. Es gibt Pseudo-Serendipität (zufällig etwas Gesuchtes entdecken) und echte Serendipität (zufällig etwas Nichtgesuchtes entdecken). Auch lassen sich Finderglück und reiner Zufall methodisch trennen. Wie auch immer: Ein Ansatz, der sich auf Ursachen oder Umstände richtet, erleichtert das Verständnis des Phänomens13. Serendipität kann durch „Unfall“, Zusammentreffen von Umständen, Fehler, Zufall, aus Versehen, durch Ungeschicklichkeit oder Unachtsamkeit entstehen.
Bei unseren Beispielen ist die Entdeckung von blonder Schokolade, Milchkonfitüre und Nutella einem Versehen während der Zubereitung oder Lagerung geschuldet. Es handelt sich um eine notwendige oder erzwungene Serendipität. Die Cornflakes von Kellogg’s sind auch Ergebnis eines Vergessens, doch handelt es sich hier um eine Art von Entdeckung, da die Brüder Kellog aktiv nach einem neuen Produkt als Brotersatz suchten. Carambar und Tarte Tatin hingegen sind Resultate von Ungeschicklichkeit oder Fehlern bei einem Arbeitsschritt oder bei der Zugabe von Kakao in ein Karamellrezept.
Zum Abschluss ein Feuerwerk an Rezepten...
Beenden wir diesen Überblick der kulinarischen Serendipität mit einer Auswahl an Zufällen und glücklichen Fügungen:
- Die Bêtises de Cambrai, diese verdauungsfördernden Minzbonbons, sollen der Legende nach (die beiden Süsswarenhersteller Despinoy und Afchain streiten jedoch über die Urheberschaft) im 19. Jh. durch einen Fehler des Lehrlings Émile Afchain entstanden sein. Er dosierte Zucker und Minze falsch; zudem soll er versehentlich Luft in die Bonbonmasse gebracht haben14. Jedoch ist diese Geschichte das, was man heute Concept Marketing nennt: Historiker erinnern daran, dass man in Cambrai seit dem 13. Jh. Bonbons aus gekochtem Zucker herstellt. 15
- Der Pineau des Charentes hat einen genau datierten, jedoch zweifelhaften Ursprung: 1589 soll ein unachtsamer Winzer Weinmost in ein Fass mit Cognac gekippt haben16.
- Der Madeirawein wurde zufällig im 16. Jh. entwickelt. Für lange Seefahrten wurde er mit 20% Alkohol angereichert, um die schwierigen Bedingungen auf See zu überstehen. Schiffsbewegungen und Äquatorhitze erwärmten den Wein und beschleunigten seinen Alterungsprozess, was ihm einen besonderen Geschmack verlieh. Erst nach 1794 nutzte man wissenschaftliche Verfahren, die den Vorgang nachahmten17.
- Der Ursprung des Roquefort ist nicht bekannt, doch wird er ab 1017 in karolingischen Quellen erwähnt. Der Legende nach soll ein verliebter Hirte seiner Angebeteten nachgestellt haben. Deshalb vergass er seine Brotzeit – Brot und Ziegenkäse – in einer Höhle in Combalou (im französischen Departement Aveyron). Als er zurückkehrte, fand er den Käse mit Schimmel (Penicillium roqueforti) überzogen und liess ihn sich schmecken. Der Roquefort war entstanden18.
Abschliessend noch der Hinweis, dass auch Zutaten unserer Rezepte manchmal durch Serendipität entdeckt wurden. Agar-Agar beispielsweise ging aus einem Glücksfall hervor, der sich 1658 in Japan ereignete, als Minora Tarazaemon, regionaler Gasthausbesitzer, die Idee gehabt haben soll, im Schnee aufbewahrte Algenreste zu kochen, so dass er ein festes Gelee erhielt19. Mehrere Süssstoffe wie Saccharin, Zyklamat oder Aspartam wurden ebenfalls zufällig entdeckt20.
Zusammenfassung
Wie gezeigt, sind durch Missgeschick oder Glücksfälle gefundene Rezepte in der Geschichte der Kochkunst zahlreich und vielfältig. Denken Sie daran, wenn Sie meinen, dass Ihnen Sosse oder Dessertcreme missraten sind! Die Serendipität im Alltag zu kultivieren ist eine Frage der Einstellung. Man muss sich den Möglichkeiten öffnen, die sich im Leben unverhofft zeigen.