Elie Metchnikoff
Metchnikoff propagierte den Genuss von Joghurt als ein die Gesundheit förderndes und lebensverlängerndes Nahrungsmittel. Doch wozu?
Elie Metchnikoff, Entdecker der Fresszellen (Phagozyten) und Pionier der Probiotikaforschung. ©CC
Im Jahre 1908 erhielt der russische Zoologe, Bakteriologe und Immunologe Elie Metchnikoff (1845-1916) den Nobelpreis für seine Entdeckung der Immunabwehr durch die sogenannten Fresszellen (Phagozyten). Etwa zur selben Zeit propagierte er öffentlich den Genuss von Joghurt als ein die Gesundheit förderndes und lebensverlängerndes Nahrungsmittel. Doch wozu? Was bewog den bekannten Forscher, sich für eine Veränderung der Ernährung stark zu machen?
Autointoxikation
Metchnikoff war zu dieser Zeit Forschungsdirektor am Pasteur-Institut in Paris. Schon seit Jahren beschäftigte ihn hier die Frage, wie und warum der Mensch altert. Dies war eine direkte Fortsetzung seiner immunologischen Arbeiten, denn seiner Auffassung nach waren die alles verschlingenden Fresszellen die Hauptschuldigen eines vorzeitigen Alterns. In seinen Études sur la nature humaine (1903) vertrat er die Ansicht, dass Altern eine Folge von „Disharmonien in der Organisation des Verdauungsapparates“ sei (desharmonies dans l’organisation de l’appareil digestif de l’homme). Für Metchnikoff war der Dickdarm (colon) ein schädliches Organ, weil er ein Reservoir von unverdauter Nahrung sei, welches die Ansiedelung von Fäulnisbakterien fördere. Das führe zu einer Art Selbstvergiftung (Autointoxikation), die die Immunzellen herausforderten. Je älter der Mensch werde, umso grösser die Gefahr, dass die Fresszellen im Darm von Verteidigern gegen Infektionen zu Zerstörern von gesundem Gewebe durch Autotoxine aus Fäulnisbakterien würden, die im Darm siedeln.
Trotz dieser pessimistischen Ansicht sah Metchnikoff seine Arbeit als eine „optimistische Philosophie“ an. Im Zusammenhang mit Verdauung und Altern erschien ihm die Bakteriologie eine zukunftsweisende Wissenschaft zu sein. Eines Tages werde die Medizin sogar in der Lage sein, das Leben extrem zu verlängern – bis zu 150 Jahren. Erst in diesem Alter sei ein natürlicher Todesinstinkt erreicht. Gegenwärtig gebe es diesen „natürlichen Tod“ nicht; die meisten Menschen würden aufgrund schädlicher Einflüsse früher sterben. Aufgabe der Wissenschaft sei es daher, lebensverlängernde Massnahmen zu finden, damit diese hypothetische Lebensgrenze durchschnittlich erreicht werden könne.
Anti-Aging-Massnahmen
Metchnikoff machte verschiedene praktische Vorschläge zur Lebensverlängerung, darunter „biologische Ersatztherapien“ durch Drüsentransplantation oder Hormoneinsatz (endokrine Rejuvenation). Doch vor allem war er fasziniert von Milchsäurebakterien und ihrer Rolle in der Darmflora. Erstmalig entdeckt worden waren diese von Louis Pasteur, als er in den 1860er Jahren die Weingärung studierte. In schneller Folge fanden Bakteriologen weitere Arten von Milchsäurebakterien. Im Jahr 1905 entdeckte der bulgarische Forscher Stamen Grigorow das sogenannte „Bacillus bulgaricus“, das als Milchsäurebakterium für die Umwandlung von Milch in Joghurt verantwortlich ist. Metchnikoff erfuhr von den Forschungen des jungen Bulgaren, und zwei Jahre später – 1907 – veröffentlichte er seine Ideen zur Gesundheit der bulgarischen Landbevölkerung. Er erklärte die hohe Lebenserwartung der dortigen Bauern durch den täglichen Verzehr frischen Joghurts.
Mikroben mit Mikroben bekämpfen
Auch in öffentlichen Vorträgen verbreitete Metchnikoff seine Ansicht, dass insbesondere der bulgarische Joghurt das Altern durch Fäulnisbakterien im Darm aufhalten könne. Er forderte das Publikum zu sorgfältiger Hygiene im Umgang mit frischem Obst und Gemüse auf. Doch man solle nicht nur verhindern, dass schädliche Bakterien in den Körper gelangen. Es gebe auch „gute“ Bakterien, und diese könne man durch den Genuss von bulgarischem Joghurt und anderen Sauermilchen kultivieren. Im Darm angesiedelt würden sie verhindern, dass sich Fäulnisbakterien auf unverdauter Nahrung entwickeln können. Unter dem Eindruck einer allgemeinen Bakterienfurcht nahm das Publikum mit Begeisterung seine Berichte über Experimente auf, in denen Metchnikoff und seine Mitarbeiter beobachtet hatten, wie Mikroben Milchzucker in Milchsäure umwandelten und dabei Fäulnisbakterien abtöteten. Der Bacillus Bulgaricus, den man in bulgarischer Sauermilch gefunden habe und der in grossen Mengen von der Landbevölkerung gegessen werde, würde diese Aufgabe am perfektesten erledigen, propagierte der Nobelpreisträger. Es gebe Grund zu der Annahme, dass die auffallende Langlebigkeit vieler Bulgaren auf den Genuss von Joghurt zurückzuführen sei.
Der Joghurt-Boom
Metchnikoffs Botschaft, dass es eine Verbindung zwischen Selbstvergiftung, Altern und Joghurt als lebensverlängernder Nahrung gebe, wurde von der Öffentlichkeit begierig aufgenommen. Ein regelrechter Ansturm auf Joghurt und andere Sauermilchprodukte war die Folge. Zwar kannte man in Westeuropa die Buttermilch resp. die spontan sauergewordene Milch (Setz- oder Dickmilch genannt), aus bakteriologischer Sicht handelte es sich hier aber um eine unreine Gärung (Nebenprodukte wie Buttersäure, Kohlensäure, Alkohol). Dass Metschnikoff vorschlug, zwecks Abtötung dieser Nebenflora die Milch erst aufzukochen und anschliessend mit Reinkulturen erwünschter Bakterienstämme zu versetzen, war eine vollständig neue Praxis. In einer Flut an medizinischer Fachliteratur wurde in den darauffolgenden Jahren der Genuss von Joghurt als Heilmittel, Diätetikum, Kurmittel- und Nahrungsmittel empfohlen.
Bulgarischer Joghurt wurde zum Lebenselixir, und der Bacillus bulgaricus zur Mikrobe eines langen Lebens. Alle möglichen Krankheiten, darunter auch psychische Erkrankungen wie Depressionen, Melancholie, oder Hypochondrie, sollten durch ihn geheilt werden können. Apotheken und Drogerien in Europa und bald auch in den USA offerierten fertigen Joghurt, und ebenso Starterkulturen in Pulver- und Tablettenform, die man sowohl direkt einnehmen oder zur Herstellung eines Joghurt im Haushalt verwenden sollte. Metchnikoff selbst distanzierte sich von dieser Geschäftemacherei, doch es war zu spät. Die Begeisterung, schädliche Bakterien im Körper, insbesondere im Darm, durch nützliche Bakterien zu bekämpfen, war kaum zu dämpfen. In den 1910er Jahren entstand rund um den Joghurt eine regelrechte Reform der Diätetik. Vor allem unverdaute Eiweissstoffe bei hauptsächlicher Fleischernährung wurden als problematisch angesehen. Mittels Diät sollte verhindert werden, dass die nicht resorbierten Eiweissstoffe im Dickdarm zersetzt werden und dabei giftige Stoffwechselprodukte entstehen, die nach der Aufnahme ins Blut zu einer Art Selbstvergiftung führen würden (Autointoxikation). Erst in den 1920er Jahren ebbte die Begeisterung für bulgarischen Joghurt ab, allerdings nur deswegen, weil ein weiteres Milchsäurebakterium gefunden worden war. Mit dem Lactobacillus acidophilus begann eine neue Welle der Werbung für Bakteriotherapien – Vorform der modernen Probiotik.
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