Wie wir fühlen, was wir essen
Der Körper unterscheidet sehr differenziert, welche Stoffe für ihn nahrhaft oder schädlich sind. Unsere Geschmacksrezeptoren sind im Körper verteilt und lassen sich kaum täuschen.
Schlucken oder zurückweisen – der „Im-Mund“-Moment der Ernährung
Die Bewertung der sensorischen Eigenschaften von Nahrungsmitteln in der Mundhöhle – Geschmack, Beschaffenheit, Temperatur und Aroma – ermöglicht es uns, potenziell schädliche oder giftige Stoffe zu meiden und nährstoffreiche Lebensmittel, die unseren Energiebedarf decken, auszuwählen. Der Geschmackssinn ist für die Auswahl von Lebensmitteln entscheidend. Er meint vor allem die Wahrnehmung von chemischen Reizen, die Geschmacksempfindungen wie süss, sauer, salzig, bitter, umami und möglicherweise fetthaltig hervorrufen. Alle anderen Empfindungen, die wir im Alltag als «Geschmack» bezeichnen, zum Beispiel Pfirsich, Vanille und Schokolade, sind aromatische Erlebnisse. Sie werden durch flüchtige Moleküle verursacht, die beim Kauen über den hinteren Mundraum in die Nase gelangen. Süsser Geschmack wird durch Zucker erzeugt, also durch energiereiche Nahrung, die für alle Stoffwechselvorgänge des Körpers benötigt wird; «salzig» charakterisiert natriumreiche Nahrung, die für bestimmte physiologische Vorgänge, etwa die Funktion des Nervensystems und die Kontrolle der Körperflüssigkeiten, notwendig ist; «umami» verweist auf Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an Aminosäuren, den Bausteinen der Proteine, die für die Zellerneuerung und die hormonelle Steuerung der Körperfunktionen zuständig sind; als «sauer» und «bitter» werden häufig verdorbene bzw. giftige Lebensmittel beschrieben. Die Wahrnehmung von Fett, dem Nährstoff mit der höchsten Energiedichte, beruht vorwiegend auf der Konsistenz, obwohl auch der Geschmack eine Rolle spielt.
Die in Lebensmitteln enthaltenen Moleküle, die den Geschmack erzeugen, werden im Speichel aufgelöst und treten so in Kontakt mit den Geschmacksknospen. Das sind Miniorgane, die sich auf den Geschmackspapillen auf der Zunge und auf dem Gaumensegel befinden. Geschmacksknospen bestehen aus über 100 spezialisierten Geschmacksrezeptorzellen, aus denen Mikrovilli (winzige fadenartige Membranen) durch Poren im Epithel der Zunge (Zungenoberfläche) nach oben ragen und den Kontakt mit dem Speichel und seinem Inhalt herstellen. Am basalen Ende stehen die Geschmacksknospen in Kontakt mit den Geschmacksnerven, die Signale an das Gehirn senden. Die erste Reaktion, die durch die Stimulierung dieser Nerven hervorgerufen wird, ist die Geschmacksempfindung, anhand der wir entscheiden, ob wir das angebotene Essen hinunterschlucken oder zurückweisen. Die molekularen Rezeptoren für Süss-, Umami- und Bittermoleküle sind gut bekannt, während die Mechanismen bei der Erkennung von salzigen, sauren und fettigen Komponenten noch nicht völlig geklärt sind. Geschmack ist «vorprogrammiert». Ab der Geburt bevorzugen wir Menschen süsse Nahrungsmittel und lehnen bittere Stoffe ab. Die Geschmackswahrnehmung von süss, salzig und fetthaltig ist auch deshalb wichtig, weil diese so viel mehr sind als einfach nur Geschmacksrichtungen: Sie sind wichtige Motivatoren für Essensvorlieben und werden oft übermässig viel verzehrt.
Jenseits der Zunge: Schmecken mit Körper und Hirn
Ein faszinierender Aspekt ist die relativ neue Erkenntnis, dass sich Geschmacksrezeptoren nicht nur auf der Oberfläche der Zunge, wo sie ursprünglich entdeckt wurden, befinden, sondern auch im Verdauungstrakt und in einigen anderen Organen. Diese Rezeptoren prüfen offenbar den Nährstoffgehalt der verschiedenen Organe, um die physiologische Funktion des Organs an den jeweiligen Inhalt anzupassen. Die genaue physiologische Rolle der Geschmacksrezeptoren jenseits der Zunge ist noch nicht vollständig geklärt. Es ist bekannt, dass im gesamten Magen-Darm-Trakt Geschmacksrezeptoren für süss zu finden sind und zur Modulation der Glukoseabsorption beitragen. Ein solcher Rezeptor wird durch die Anwesenheit von hohen Mengen Glukose im Darm aktiviert, wodurch die Dichte und Aktivität der Glukosetransporter im Magen-Darm-Trakt erhöht und letztendlich die Glukoseabsorption im Darm beschleunigt wird. Bei Tiermodellen führt die Aktivierung des Geschmacksrezeptors für süss zur Ausscheidung von GLP-1, eines Hormons, das die Insulinfreisetzung stimuliert. Beim Menschen konnte allerdings ein ähnlicher Effekt noch nicht eindeutig nachgewiesen werden.
Die Vorliebe für bestimmte Nährstoffe, insbesondere Zucker und Fett, und die Abneigung gegen giftige Substanzen geht nicht nur auf den Geschmack, sondern interessanterweise auch auf Wirkungen nach der Ingestion (der Nahrungsaufnahme) zurück. Wenn also die Aufnahme eines wohlschmeckenden Nahrungsmittels mit einem schädlichen Reiz wie Übelkeit oder Schmerzen einhergeht, dann wird dieser Geschmack in Zukunft als unangenehm empfunden. Das ist möglicherweise ein Faktor für die Auslösung einer Anorexie bei Krebspatienten nach der Chemotherapie. Wenn wiederum ein neutraler Geschmack mit der Einführung eines Nährstoffs wie Kohlenhydrat oder Fett in den Magen einhergeht, dann wird dieser Geschmack bei der zukünftigen Exposition als angenehmer empfunden. Bei Tieren ist dieser Zusammenhang eindeutig nachgewiesen; inwieweit jedoch ein solcher Geschmack-Nährstoff-induzierter Lernprozess zu unserer erworbenen Vorliebe für bestimmte Lebensmittel beiträgt, ist noch unklar.
Es drängt sich die Spekulation auf, die im Verdauungstrakt exprimierten Geschmacksrezeptoren würden die erlernte Vorliebe und Abneigung vermitteln. In Einzelfällen wurde nachgewiesen, dass die Rezeptoren für bitter zur erlernten Abneigung beitragen können. Allerdings konnte der Rezeptor für süss als Vermittler der erlernten Präferenz für die Zuckeringestion ausgeschlossen werden. Neuere Forschungen bei Mäusen zeigen, dass die Fettsäurerezeptoren zur erlernten Präferenz im Zusammenhang mit der Fettaufnahme beitragen. So gibt es viele Mechanismen, über die nährstoffreiche Lebensmittel als solche erkannt werden, und Geschmack ist nur einer davon. Es ist sehr schwer, unserem Körper weiszumachen, dass ein Lebensmittel ohne Kalorien wirklich nahrhaft ist. Zum Beispiel schmecken künstliche Süssstoffe zwar genauso süss wie Zucker, aber Neuroimaging-Studien haben erwiesen, dass das Gehirn diese unterscheiden kann und bei Zucker eine grössere Befriedigung erlebt. Wie genau das Gehirn das macht, ist noch unklar.
Gewürze – Genuss und Schmerz: Sensorischer Angriff und Abwehr
Eine zentrale Rolle bei der Bewertung von Geschmacks- und Nahrungsmitteleigenschaften im Mund spielt neben der Geschmackswahrnehmung auch das trigeminale System der Nerven um das Gesicht, insbesondere auch bei Empfindungen, die durch Gewürze hervorgerufen werden. Die trigeminale Wahrnehmung bezieht sich auf die Wahrnehmung chemischer Substanzen im Mund, die sogenannte chemesthetische Empfindungen hervorrufen. Solche Empfindungen stehen in Zusammenhang mit Berührung, Schmerz und Temperatur und sind für Empfindungen im Mund (zum Beispiel Adstringenz, Beschaffenheit, Kühle, Prickeln, Taubheitsgefühl, Schärfe oder Würzigkeit) zuständig. Da der sensorische Mechanismus bei schädlichen heissen oder kalten Temperaturen derselbe ist wie bei der Chemesthesis oder Chemorezeption, bewirkt der Verzehr von Kräutern oder Gewürzen ähnliche Empfindungen: zum Beispiel ein lang anhaltendes Brennen nach dem Verzehr von Chili, den kühlen Atem nach einem Minzbonbon oder das seltsame Taubheitsgefühl nach Szechuanpfeffer. Diese Empfindungen werden über den trigeminalen Nerv an das Gehirn geleitet. Dieser Nerv verläuft durch die Mundhöhle und die Gesichtshaut, die Nasenhöhle und einen Teil des Auges. Deshalb können einige davon auch auf der Haut, in der Nase oder im Auge wahrgenommen werden, zum Beispiel, wenn Chili beim Kochen versehentlich in die Augen gerät.
Die meisten scharfen Zutaten oder ihre Ursprungspflanzen sind giftig, wenn sie in grossen Mengen verzehrt werden. Die trigeminale somatosensorische Stimulation (Stimulation ausserhalb der direkten sensorischen Organe) schützt vor einer weiteren Ingestion, indem sie schmerzhafte Alarmsignale oder Husten auslöst. Wie im Fall der Geschmacksrezeptoren hat sich gezeigt, dass auch die für die Wahrnehmung von Gewürzen aktivierten Rezeptoren im Magen-Darm-Trakt und anderen Organen exprimiert sind und auf verschiedene Stimuli reagieren, zum Beispiel auf Temperatur, chemische Stoffe oder Entzündungsmoleküle. Im Unterschied zu den Geschmacksrezeptoren sind die Schärferezeptoren im Verdauungstrakt aber nicht am Nutrient Sensing (der Nährstoffverfügbarkeitsprüfung) beteiligt, sie sind jedoch Teil des Schutzmechanismus gegen Umweltstress. So können zum Beispiel einige Gewürzmoleküle (z. B. Senf) die Magen-Darm-Motilität modifizieren, um die Passagezeit zu verringern. Man könnte also davon ausgehen, dass dieser Mechanismus dazu beiträgt, versehentlich aufgenommene, potenziell toxische Stoffe aus dem Körper zu entfernen. Auch wenn die Reaktion des Organismus auf die durch scharfe Inhaltsstoffe ausgelösten sensorischen Signale dazu führt, dass man sie nicht zu sich nimmt, verbindet man mit deren Verzehr auch viele nützliche Wirkungen, vor allem in der traditionellen Medizin. Die Mechanismen, die bei der Wahrnehmung sinnlicher Eigenschaften von Nahrungsmitteln mitspielen, sind also nicht nur am Essensgenuss beteiligt: Sie helfen auch, nahrhafte oder schädliche Werten aufzuspüren, und spielen eine Rolle bei der Anpassung von Stoffwechsel- oder Verhaltensfunktionen.