Ich esse, also bin ich
Das Baby entwickelt sein Lebensgefühl mit dem Genuss der Nahrung.
Francesco Panese sprach mit demPsychiater und Psychoanalytiker François Ansermet
François Ansermet, Sie sind Psychiater und Psychoanalytiker mit Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendalter. Außerdem stehen Sie in regem Austausch mit Neurowissenschaftlern. Wie sieht jemand mit einem so vielfältigen Hintergrund, wie Sie ihn haben, die Beziehung zwischen Nahrung und Lust? Die bildet sich ja in einem sehr entscheidenden Moment heraus: wenn das Kind sich an der Brust seiner Mutter ernährt.
Ich glaube, dass die kindliche Lust an der Nahrungsaufnahme jenen Punkt darstellt, an dem sich das psychische Leben des Kindes und sein Zustand als Lebewesen verbinden. Die Frage der Lust verweist darauf, wie eng diese beiden Facetten des Lebens miteinander verknüpft sind. Alles geht hier über die Erfahrung der Befriedigung, und die ist nach Auffassung der Psychoanalyse aufs Engste mit der Urerfahrung der ersten Nahrungsaufnahme verbunden. In diesem Moment kommt eine erste Lusterfahrung ins Spiel. Diese Lust ist mir nach wie vor rätselhaft, denn sie gründet ja eigentlich auf einer Unlust – einer Ur-Erfahrung, einem Ur-Gefühl des Menschen.
Der kleine Mensch ist zum Zeitpunkt seiner Geburt noch unvollständig, er ist das neotenischste aller Lebewesen: Er ist bei seiner Geburt mehr als alle anderen Lebewesen von seinesgleichen abhängig. Das bedeutet, dass ein Baby in einem Zustand auf die Welt kommt, der einen potenziellen Notstand darstellt: Es verlässt das ausgeglichene Milieu der Gebärmutter und gerät in eine Welt, in der eine andere Temperatur herrscht, in der die Schwerkraft wirkt und es einem Ungleichgewicht ausgesetzt ist. Das Baby wird nicht mehr von jenem Kreislauf reguliert, über den es während der Schwangerschaft mit seiner Mutter verbunden war. Diese potenzielle Notlage ist ein fundamentaler, organischer Zustand, in dem das Gleichgewicht, die Homöostase, wie es technisch heißt, verloren gegangen ist.
Der Beginn des Lebens: eine Notlage
Der Säugling kann dieses Gleichgewicht nicht von sich aus wiederherstellen. Das ist meiner Meinung nach das grosse Geheimnis des Menschen. Man könnte sagten, der Mensch sei ein Irrtum der Evolution: Plötzlich erscheint eine Lebensform, die in absoluter Abhängigkeit zu einem Anderen steht, vor allem, was die Ernährung betrifft. Der kleine Mensch erlebt also auf besonders schmerzhafte Art und Weise die Not des Hungers. Das ist eine Erfahrung, die ihm Schmerzen verursacht und ihn in einen Zustand heftigen Unwohlseins versetzt. Angesichts dieses Unwohlseins bilden die mütterliche Brust, die Nahrung einen fundamentalen Ausgleich. Sie gewährleisten die Rückkehr in ein Gleichgewicht, das während der Zeit in der Gebärmutter selbstverständlich war. Brust und Nahrung werden daher vom kleinen Menschen als lustbetont empfunden. Man könnte zusammenfassend sagen, dass am Beginn das Unvollendetsein steht: Der Beginn des Lebens stellt einen «Notstand» dar, einen Zustand der Hilflosigkeit. Paradoxerweise ist das Leben für den kleinen Menschen potenziell zerstörerisch, da er absolut abhängig ist. Aber gleichzeitig setzt ihn diese absolute Abhängigkeit in Beziehung zum Anderen, vor allem zu seiner Mutter – und nach und nach zu seinem gesamten Beziehungsgeflecht. Diese Bezugspersonen erlauben es dem Kind durch ihr insgesamtes Handeln, vor allem aber dadurch, dass sie es füttern, sich aus dieser Unlust, die mit dieser potenziellen Notlage einhergeht, zu befreien und eine Befriedigung zu erleben.
Aber erlebt der Säugling an der Mutterbrust wirklich ein Lustgefühl? Oder stellen wir uns retrospektiv die Beziehung zur Mutterbrust lustvoll vor?
Die Frage, ob diese Lust eine Urerfahrung darstellt – ob sie also an der Basis des menschlichen Werdens steht – ist ungelöst. Es ist schwierig zu sagen, ob die Lust der Mutterbrust und der Nahrung eine Ur-Lust ist oder ob diese Lust in gewisser Hinsicht im Nachhinein auf einen Untergrund aus Unlust projiziert wird, aus dem wir uns befreien wollen. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass eine Unlust eine Ende findet, dass eine Not gelindert wird. Ob es sich um eine erlebte Lust oder um eine im Nachhinein auf die Unlust projizierte Lust handelt – darum geht es, wenn wir dir Erfahrung der Befriedigung erforschen, eine der zentralen Ideen von Freud, aber auch in den Neurowissenschaften, also in jenen beiden Wissensbereichen, die wir im Dialog mit Pierre Magistretti erkunden.
Die Erfahrung der Befriedigung, vor allem jene, die mit Nahrungsaufnahme zu tun hat, schreibt sich in unserem Gehirn in Form von Spuren ein. Diese Spuren erlauben es uns, unsere körperlichen oder somatischen Erfahrungen, die mit einem Zustand der Beruhigung und des Gleichgewichts einhergehen, aufzuzeichnen und später wieder abzurufen. Was nun die anfängliche Notlage betrifft: Das Subjekt verbindet diese somatische Beruhigungserfahrung mit einer Repräsentation von Lust. Die Lust ist also nicht gegeben, sie ist nicht wesenhaft, sondern wird im Nachhinein auf einen Untergrund von Unlust projiziert. Dabei spielt die Nahrungsaufnahme eine grundlegende Rolle, weil sie die fundamentalste konkrete Erfahrung darstellt: Nämlich die direkteste und dringlichste Erfahrung, die aus diesem Zustand des Leidens herausführt. Freud sprach davon, dass sich das Kind in einem Zustand der «Not des Lebens» befindet. Und die Eltern erfahren diese Not des Lebens jedes Mal, wenn das Kind Hunger hat oder, auf wesentlich tragischere Art und Weise, wenn ein Mangel an Nahrung herrscht. Die Gier des hungrigen Kindes macht es deutlich: Es weiß, dass es sich dank der Intervention eines Anderen aus dieser Not, die für es fatal sein kann, befreien kann. Man könnte auch sagen, dass am Anfang ein «Schrei des Lebens» steht. Der Schrei des Kindes, der nur durch die Intervention des Anderen, von dem es abhängig ist, zum Schweigen gebracht werden kann – durch die Intervention der Mutter, aber auch des Vaters oder einer anderen Bezugsperson, die das Kind buchstäblich retten, indem sie ihm Nahrung zuführen.
Und was geschieht, wenn das Kinder älter wird?
Wenn das Kind heranwächst, verwandelt sich diese essenzielle Beziehung zwischen dem körperlichen Bedürfnis und der Erfahrung der Befriedigung: Der Schrei wird zu einem Appell an den Anderen. Die Nahrung steht insofern immer im Zentrum der emotionalen und sozialen Beziehungen. Ganz allgemein sind wir unser Leben lang davon geprägt, wie wir diese Situation der ersten Nahrungsaufnahme erlebt haben. Aber im Zuge des Heranwachsens lernen wir zum Glück langsam, die Lust in unseren Entscheidungen zu antizipieren. Mit anderen Worten: Wir lernen, freier, aktiver, engagierter im Umgang mit den Notwendigkeiten des Lebens zu werden – auch mit der Notwendigkeit, uns zu ernähren. In unserer Fähigkeit, Lust wie Unlust zu antizipieren, verschränken sich Natur und Kultur. Die Beziehung zur Nahrung spielt in dieser Verschränkung eine wesentliche Rolle. Die Beziehung zwischen Lust und Unlust trägt also dazu bei, unsere subjektive Wirklichkeit zu konstruieren und uns in unserer Einzigartigkeit zu begründen. Anders formuliert: Die Welt ist für jeden von uns eine andere. Die Art und Weise, wie Dinge für uns subjektiv existieren, ist aufs Engste damit verknüpft, wie wir sie zwischen Lust und Unlust verorten. Das gilt natürlich auch für unsere Ernährungswirklichkeit: Potenzielle Lebensmittel existieren für jeden von uns auf andere Weise. Wir teilen sie, oft unbewusst, aufgrund unserer Erfahrungen nach Vorlieben und Abneigungen ein. Jedem seine Freuden!
Die Nahrungsmittelindustrie – und nicht nur sie – hat es sehr gut begriffen: Der Erfolg eines Nahrungsmittels lässt sich nicht auf seine Ernährungsdimension reduzieren. Er ist eng damit verbunden, wie gut es die Lust antizipieren lässt, die es hervorrufen wird, das heißt, wie gut es einen Mangel suggerieren, ein Verlangen schüren kann. Im Grund wollen wir nichts, was unmittelbare Befriedigung verspricht. Das erinnert uns daran, dass das Menschliche vielleicht auch darin besteht, sich bewusst in Zustände des Ungleichgewichts zu begeben, um dann erst im Zuge eines unausgeglichenen Lebensprozesses ein Gleichgewicht zu finden, eine Befriedigung in der Unzufriedenheit. Diese letztlich sehr menschliche Tendenz kann aber pathologische Züge annehmen: Die immer kostspieligere Suche nach der Lust – sei es auf psychischer, körperlicher oder materieller Ebene – kann manchmal an Sucht grenzen.
Dieser Mechanismus gilt auch für die Ernährung …
Ja. Wenn Sie essen, dann verschaffen Sie sich Befriedigung. Wenn Sie mehr essen, kommt Unlust auf. Und wenn Sie noch mehr essen, dann werden Sie Unzufriedenheit verspüren. Im Extremfall kann die Suche nach Lust zu einem sehr ambivalenten Zustand der Suche nach Lust in der Unlust führen oder, umgekehrt, zur Suche nach der Unlust in der Lust – was Freud jenseits des Lustprinzips nannte. Das andere Extrem ist die Figur des Anorektikers. Anorektiker sind insofern radikal, als sie auf etwas jenseits des Objekts abzielen: Es geht ihnen nicht um Nahrung, sondern um eine Liebesgabe; sie wollen direkt zur Liebe gelangen, ohne Umweg über das Objekt. Durch die Verweigerung der Nahrung versuchen sie, ihr Begehren zu retten – ein Begehren, das nicht mehr über die Vermittlung der Nahrung zu gehen braucht. Anorektiker dürfen nicht wollen, was sie begehren. Sie ersehnen eine Lust, die mit der Nahrungsaufnahme einhergeht, aber ohne Nahrungsaufnahme auskommt. In diesem Sinne erinnert uns ihre extreme Haltung daran, dass es immer so etwas wie «jenseits der Nahrung» gibt. Ein sehr einfaches Beispiel: Wenn ich jemandem vorschlage, «einen Kaffee trinken zu gehen» oder «sich ein letztes Glas zu genehmigen», dann geht es nicht um Nahrungsaufnahme, sondern um Beziehung. In der Sprache der Psychoanalyse würde man sagen, dass der orale Trieb eine Anforderung des Lebens darstellt, die, soll er erfüllt werden, über die Nahrung geht, aber nichts mit der Nahrung als Nahrungsmittel zu tun hat. Man würde also sagen, dass Anorektiker Trieb und Triebobjekt entkoppeln und auf etwas jenseits davon abzielen, auf ein Zeichen der Liebe.
Was ist dann der Unterschied zwischen Anorexie und Bulimie?
Der Bulimiker zeichnet sich durch eine zwanghafte Nahrungsaufnahme aus, die ihm nie Befriedigung verschaffen kann. Vielleicht erzielt die restriktive Anorexie eher eine gewisse mystische, radikale Befriedigung als die bulimische Anorexie, bei der man in Unlust versinkt oder, besser gesagt, in der Lust der Unlust. Das kann manchmal bis zum Ekel vor sich selbst führen, zur Scham, ja, sogar zu sehr gewalttätigen selbstzerstörerischen Praktiken. Die Anorektiker, denen ich in meiner Praxis begegnet bin, haben mir klar gemacht, dass sie Schwierigkeiten mit einem wichtigen Aspekt der Nahrungsaufnahme haben: Der Akt des Essens führt vom Haben zum Sein. Mit anderen Worten: Wenn ich etwas esse, dann wird dieses Etwas ich. Man muss also ein enormes Vertrauen in das haben, was wir essen. Nur so können wir überhaupt das Risiko eingehen, dass sich das Gegessene in einen Teil von uns verwandelt. Bei Anorektikern scheint dieses Vertrauen gestört zu sein: Als ob die Nahrung sie in etwas verwandeln würde, was nicht sie selbst sind. Und wir alle haben mehr oder weniger ein Problem damit, Vertrauen in den Akt der Nahrungsaufnahme zu setzen. In diesem Sinne erinnert uns die Anorexie daran, dass ein pathologisches Verhalten oft wie eine Linse funktioniert, die existenzielle Fragen erst so richtig sichtbar macht.
Aber was ist nun eigentlich die Nahrung?
Ich glaube, dass die Nahrung ein Schein-Objekt ist, dessen Macht sich darin begründet, dass es fürs Ins-Gleichgewicht-Bringen des Lebendigen notwendig ist. Vielleicht ist die Nahrung deswegen auch ein wichtiges symbolisches Objekt, das dem Austausch mit dem Anderen dient, aber auch der mehr oder weniger harmonischen Beziehung, die wir mit uns selbst pflegen. Das verleiht der Nahrung einen einzigartigen Charakter. Sie steht für mehr als für sich selbst, sie verweist auf etwas jenseits der Nahrung. Die Nahrung impliziert ein Verlangen, einen an den Anderen gerichteten Appell. Sie ist zentraler Bestandteil unserer sozialen Beziehungen. Das erklärt vielleicht auch die vielen Symboliken rund um die Nahrung: um ihre Form, ihre Geschmäcker, Künste, Rituale und Repräsentationen – kurz, alles, was aus uns menschliche Wesen macht. Ich esse, daher bin ich. (Lachen)