Soziale Sättigung
Indien ist ein Land mit ganz unterschiedlichen Kulturen, Küchentraditionen und Essgewohnheiten, in denen sich letztlich auch Probleme wie Landflucht und Verstädterung spiegeln. Vier indische Künstler dekonstruieren und thematisieren die Sättigung der indischen Bevölkerung in verschiedenen Schichten der Gesellschaft.
Der politische Aspekt der Ernährung spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Verbreitung von Hunger und Essgewohnheiten. Einerseits bildet er die Wurzel vieler historischer Ereignisse, andererseits ist das auch etwas, mit dem wir alle jeden Tag zu tun haben – bewusst und unbewusst. Durch Wanderungsbewegungen, Konsum und vor allem durch die verschiedenen Lebensstile greifen diese Gewohnheiten auch in unseren Alltag ein. Ihre Auswirkungen auf die indische Gesellschaft sind Gegenstand der Arbeiten von vier indischen Künstlern – Sunoj D., Subodh Gupta, Arunkumar H.G. und N. S. Harsha. Zwar geht es dabei vor allem um Fragen der Ernährung, der Nahrungsaufnahme und der genetischen Modifizierung von Lebensmitteln, doch sie öffnen weitere Zusammenhänge und verdeutlichen etwa Begriffe wie «ländlich» und «städtisch» sowie «Entwicklung», «Rezession» und «Niedergang».
N. S. Harsha
Die Abwanderung aus ländlichen in städtische Gebiete wird immer stärker vom Wunsch nach Identifizierung mit einer globalen Welt bestimmt. Im Verlaufe dieses Übergangs lassen sich zwar äusserlich Veränderungen feststellen, die Essgewohnheiten hingegen bleiben meist dem Ursprung treu. N. S. Harsha legt in seinen Malereien und gemalten Installationen das Augenmerk auf Details innerhalb der Gemeinschaften, indem er jeder Person unverwechselbare Charakteristika zuschreibt, die wiederum zahlreiche Identitäten erzeugen. Seine Werke sind oft streng symmetrisch aufgebaut und dementsprechend detailliert in der Darstellung. Harsha knüpft darin mit feinem Humor an indische Glaubenssätze und Rituale sowie an Kommentare über soziale Phänomene und Welternährungsorganisationen an.
Die künstlerische Darstellung von Details in Miniaturen widerspiegelt die berühmte indische Tradition der Miniaturmalerei. Die narrativen Techniken der Miniatur, die Harsha in moderner Form aufgreift, erlauben es, viele Geschichten parallel zu erzählen, und transportieren somit in jedem Bild eine Vielzahl an Aussagen. «Essensreste», eine Installation aus den Resten einer für Südindien typischen, gemeinschaftlichen Mahlzeit, ist eine Reproduktion von Essensresten, inklusive Sossenklecks und Bananenschalen. Diese Reste erinnern sofort an ein anderes Bild von Harsha „Humanisierte Zukunft“, wo Tiere, Menschen und ein Baum in völliger Harmonie gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen und in dem ähnliche Motive zu sehen sind.
Sunoj D.
Mehr als 60 Prozent der Fläche Indiens wird landwirtschaftlich genutzt. Ein Grossteil dieser Fläche fällt jedoch der Urbanisierung zum Opfer. Die mit dem Verlust des Ackerlands verbundenen Risiken gehören zu den wichtigsten Themen in der Arbeit des Künstlers Sunoj D. Dabei spielen Reispflanzen, benutzte Teller, Samenkugeln, bemalte Anbauflächen, Laborkulturen und Laub eine bedeutende Rolle. Ohne dass der Mensch in ihnen präsent ist, thematisieren Sunojs Werke unmittelbar die Sorge um die Natur, direkt in Verbindung mit menschlichem Einfluss, Zerstörung und Entwicklung.
Zu seinen Werken zählen interaktive Installationen sowie detaillierte Malereien und Zeichnungen, die auf die regressiven Elemente in der Urbanisierung verweisen. In seinen Werken «Urban Farmland Project» (Städtisches Ackerlandprojekt) und «When you Watch Them Grow… 2» (Wenn man sie wachsen sieht … 2“) wird die Aufmerksamkeit des Betrachters bewusst auf das Ackerland gelenkt, das zugunsten städtischer Entwicklung aufgegeben wurde. Wenn die Menschen in ihren Stadtwohnungen in Töpfen Reispflanzen ziehen oder man ihnen Samenkugeln gibt, die sie auf ungenutzte Flächen in der Stadt werfen, werden ihnen plötzlich die Risiken bewusst, die das Verschwinden der Nutzflächen in ländlichen Gebieten mit sich bringt. Mit diesem Schwund sind auch weitere Auswirkungen verbunden: zum Beispiel die Gefahren, die für die Gesundheit drohen, wenn in reichen Haushalten Nahrung konsumiert wird, die im Labor kultiviert wurde. Aber auch Selbstmorde unter Bauern oder Hunger unter der armen Bevölkerung hängen damit zusammen. All das belastet den landwirtschaftlichen Anbau und hat Versorgungsengpässe zur Folge, die wiederum zum Teufelskreis des Konsums in der Gesellschaft zurückführen.
Subodh Gupta
In allen Schichten der Gesellschaft umfasst das Zuhause auch einen Küchenbereich. Die Küche als Zentrum der Ernährung erzählt viel über den ökonomischen Status derjenigen, die sie benutzen. Deren Status lässt sich auch anhand des Essens sowie der Utensilien und des Geschirrs, die beim Verzehr verwendet werden, bestimmen. In seinen Installationen, Skulpturen und Bildern verknüpft Subodh Gupta diese Idee mit dem ökonomischen Wandel Indiens, indem er die Verwendung von Alltagsgegenständen in indischen Haushalten beobachtet. Gupta, der aus Bihar stammt – jenem Bundesstaat, der früher die höchste Landfluchtrate in Indien aufwies –, nimmt auf verschiedene Weise Bezug auf Utensilien und Gepäckgegenstände, die mit der Abwanderung im Zusammenhang stehen: Brotdosen, Teller, Wasserbecher, Töpfe und Milchkannen aus Stahl fungieren als Ausdrucksformen des Künstlers.
In «Zwei Kühe» wird aus zwei Fahrrädern ein System zur Lieferung von frischer Milch bis an die Haustür. In seiner Installation «Mein Familienporträt» bildet Gupta eine typische Wand mit Utensilien aus einer indischen Küche nach, inklusive Dichtungsring eines Schnellkochtopfs. In seiner neusten Bilderserie – «Memo an mich» – schafft der Künstler Gemälde aus Essensresten von Mahlzeiten, die er in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt gegessen hat. Dabei wirft er einen genaueren Blick auf das, was global und was lokal ist, und kommentiert auch, wie sich Essgewohnheiten mit der Binnenwanderung und der ökonomischen Entwicklung ändern.
Arunkumar HG
Ein Verständnis für die Koexistenz von Land und Stadt, bei der Verbindungen wichtig sind und Räume respektiert werden, ist die Grundlage dafür, dass die urbane und die ländliche Welt weiterhin nebeneinander bestehen können. Vorgefertigte utopische Ideen lassen das jedoch nicht zu. In Wirklichkeit haben sich diese beiden Welten aber längst völlig voneinander abgekoppelt: Wissenschaftliche Aspekte des Anbaus genmodifizierter Pflanzen und der Bedarf aktueller Strukturen, haben die Topographie der Erde ruiniert.
Arunkumar HG wuchs auf einer Farm auf und erlebte die Veränderung von Leben und Umwelt in der ökologisch sensiblen Region der Sahyadri-Berge. Kunst, Landwirtschaft und Umwelt sind für ihn untrennbar verbunden. In seinen Werken wirft Arunkumar durch den Verzehr ästhetisch ansprechender Produkte Fragen auf, die sich mit den Folgen und der Nachhaltigkeit von Biotechnologie und dem Anbau genetisch modifizierter Pflanzen in einem städtischen Umfeld beschäftigen.
Im Laufe der Zeit ist der Ackerbau aufgrund seiner Abhängigkeit vom Markt als Beschäftigung weniger attraktiv geworden. Der Zwang, Marktprodukte zu verbrauchen, hat mit den ursprünglichen menschlichen Bedürfnissen nichts mehr zu tun. Solche Marktprodukte sind auch notwendig, um dem Boden Nährstoffe und chemische Dünger zuzuführen, damit marktkonforme Produkte erzeugt werden können. «Bhumi ki Khurak» (Diät der Erde), «Bhu-janalayy (Erd-Esser) und die neueste Arbeit des Künstlers, «Droppings und the Dam (Damn)» (Hinterlassenschaften und der Damm (Verdammung )) sind einige der Werke, in denen der Künstler seine Gedanken über die ökologischen, umweltbedingten und sozial-kulturellen Aspekte einer nachhaltigen Lebensweise zum Ausdruck bringt. Tausende von Plastikflaschenverschlüssen (siehe Bild 1) werden in eine perfekte Landschaft verwandelt, die sie jedoch bedrohen; während vier Monate alter Weizen auf dem Esstisch auf seine Ernte wartet und ein für eine traditionelle Mahlzeit gedeckter Tisch mit den Namen der beim Ackerbau verwendeten Chemikalien gekennzeichnet ist. Diese visuell ansprechenden Werke ziehen das Interesse des Publikums auf sich und führen zur Erkenntnis, dass es ohne Biodiversität und Selbstversorgung keinen Ausweg aus den politischen Parametern von Lebensmittelverteilung und -konsum gibt.