Angst vor dem ‘Anderen’, Angst vor der Nahrung
Ernährungsbezogene und kulinarische Gewohnheiten definieren die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe. Denn jede Esskultur gibt vor, was jeder zu sich nehmen kann. Manche, sich stark vom Vertrauten unterscheidenden Praktiken erschrecken. So ist die Angst vor bestimmten Nahrungsmitteln eng mit der Angst vor dem ‘Anderen’ verbunden.
Kollektive Identität und Alterität, Essbares und Nicht-Essbares
Essen, sich Nahrung einverleiben, schafft individuelle und kollektive Identität. Wir sind -zum Teil-, was wir essen. Esskultur führt zu kollektivem Zugehörigkeitsgefühl, macht aber auch Andersartiges bewusst. Die kulturelle Praxis des Essens ist ein Indikator der kollektiven Identität.
„Kochen ist universell, aber Küchen sind verschieden“, schrieb Claude Fischler in L’Homnivore. Jede Esskultur gibt vor, was und wie gegessen wird. Innerhalb des generell Essbaren macht sie Unterschiede zwischen Essbarem und Nicht-Essbarem, zwischen reiner, unreiner und tabuisierter Nahrung. Sie gibt nicht nur die Zubereitungsart, sondern auch Reihenfolge und Kontext des Verzehrs vor. Jede Änderung esskultureller Regeln verunsichert, löst Unbehagen, sogar Angst oder Ekel z.B. vor einem Nahrungsmittel aus einer fremden Esskultur aus. Solche für Kinder typische Nahrungsmittel-Neophobie kann bei Konfrontation mit andersartigem Essen auch bei Erwachsenen auftreten.
Die kolonialen Eroberungszüge konfrontierten die Entdecker mit dem ‘Anderen’. Der Erfolg ihrer Unternehmung hing oft von der Fähigkeit ab, sich Unbekanntem anzupassen. Sie trotzten den Schwierigkeiten und überwanden ihren Widerstand gegen Nahrung der ‘Anderen’ – so James Cook (1728–1779): „Ich wollte nicht nur weiter gehen, als irgendein Mensch je gegangen war, sondern auch so weit, wie man überhaupt gehen kann“. Am Dienstag, den 20. Juni 1769 probierten der zunächst zögerliche Kapitän und seine Besatzung auf Aufforderung der Einheimischen in Tahiti Hundefleisch. Cook hielt diese Episode für wichtig genug, um nicht nur das Ereignis, sondern auch die Zubereitungs- und Garmethode in seinem Logbuch festzuhalten.
Das Interesse an fremden Küchen kann in Zeiten politischer Krisen oder auflebendem Nationalismus nachlassen. Fremdenfeindlichkeit und Nahrungsmittel-Neophobie sind eng verknüpft: Wer Mahlzeiten miteinander teilt und fremde Rezepte übernimmt, erkennt das ‘Andere’ an, während die Ablehnung gemeinsamen Essens, Verachtung oder Angst vor der Nahrung des ‘Anderen’ für Zeiten von Unruhe und Krieg gelten.
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Fischler, Claude. 2001(1990). L'Homnivore. Paris : Odile Jacob, 2001(1990). 978-2-7381-0927-8.