Der Verzehr menschlichen Fleisches
Verzehr von Menschenfleisch gab es zu allen Zeiten und überall, jedoch weder systematisch noch kontinuierlich. Mit den Hochkulturen Mesopotamiens, Ägyptens und des Indus geht er seit dem 3. Jahrtausend v.u.Z. zurück. Er wird berichtet bei den Ureinwohnern Amerikas und Ozeaniens im 16. Jh.; heute ist er ein kulturelles Tabu und selten.
Die Geschichte der Anthropophagie
Menschenfleisch zu essen ist in entwickelten Gesellschaften ein absolutes Tabu. Es gilt als derart unerträglich, dass zahlreiche Länder Anthropophagie unter Strafe stellen. Europäische Entdeckungsreisende beobachteten im 16. Jh. Anthropophagie in Amerika, später in Afrika und Ozeanien. Sie schilderten – erschrocken und fasziniert – detailliert das Erlebte, manchmal phantastisch ausgeschmückt. Der Afrikaforscher Georg Schweinfurth (1868-1871) berichtet von den zentralafrikanischen Niam-Niam: „Die Niam-Niam schämen sich ihres Kannibalismus nicht und beteuern, dass sie alle Leichname, ausser von Gestorbenen mit Hautkrankheiten, als essbar ansehen.“ Anthropologen haben das Phänomen aufgrund wenig verlässlicher historischer Quellen oft als Randerscheinung abgetan.
Anthropophagie und Kannibalismus
Ethnologen unterscheiden Anthropophagie, Verzehr von Menschenfleisch, von Kannibalismus, der gruppenweise vollzogen als rituelle oder soziale Institution gilt. ‘Anthropophagie’ ist ein im 15. Jh. gebildetes Fremdwort, abgeleitet vom altgriechischen anthropos (Mensch) und phagein (essen). Später kam das Wort ‚Kannibalismus’ vom spanischen canibal auf, abgeleitet von cariba, den Bewohnern der Karibik mit der Bedeutung ‚mutig‘; es wandelte sich im Spanischen zu ‚wild, grausam’ und wurde schliesslich für die Anthropophagen verwendet.
Endo-und Exokannibalismus
Kannibalismus zeigt sich auf zwei sich ausschliessende Arten: Endo-und Exokannibalismus. Beim Exokannibalismus gehören die Opfer einer anderen Gruppe an, getötete Feinde oder Kriegsgefangene, an denen man Rache üben oder deren Stärke und Mut man übertragen möchte. Auf den Fidschi-Inseln beispielsweise wurden als feige verachtete Feinde nicht verspeist. Der Endokannibalismus dagegen meint den rituellen Verzehr von Verstorbenen der eigenen Gruppe; er verbürgt das Weiterleben der Toten in fortdauernder Anwesenheit, verbindet Lebende und Tote. Bei solchem Begräbnis-Kannibalismus wurden z.B. deren Gebeine gebraten, gemahlen oder in Flüssigkeit aufgelöst verzehrt.
Die Wissenschaft verknüpft diese Anthropophagie mit magisch-religiösen Vorstellungen und mit Ahnenkult, der zur Gruppenorganisation beiträgt. Artgenossen – wie übrigens auch Tiere – rituell zu verspeisen, schafft soziale Bindung horizontal zwischen den Lebenden und vertikal zwischen den Generationen. Unterteilt man die Menschheitsentwicklung in Zivilisationsstufen, nimmt Anthropophagie die unterste Stufe, die der Wildheit ein.
Moderne Anthropophagen
Anthropophagie ging seit dem 16. Jh. zurück. Gerüchte oder Tatsachenberichte über aktuelle Fälle von Anthropophagie machen gelegentlich die Runde, beispielsweise über den sog. ‚Kannibalen von Rotenburg‘ im Jahr 2001. Das Kino lässt sich regelmässig von Kriminalfällen inspirieren – so im Film Das Schweigen der Lämmer mit der Figur des Hannibal Lecter.
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